Efeu - Die Kulturrundschau

Mit einem kleinen Knall

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11.05.2024. Keine Party nirgends. taz, FAZ und NZZ berichten fassungslos vom Eurovision Song Contest, bei dem erstmals eine Teilnehmerin, die israelische Sängerin Eden Golan, in einem Hochsicherheitskonvoi durch eine hasserfüllte Menge zu ihrem Auftritt eskortiert werden muss. Die NZZ hat die Nase voll vom uniformen Realismus der Autofiktion. Die SZ amüsiert sich am Berliner Ensemble über den Witz, mit dem "Spielerfrauen" dampfende Steinzeit-Männlichkeit vorführen. Die FAZ betrachtet im Münchner Lenbachhaus angeregt Cao Feis immersive Städte der Zukunft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2024 finden Sie hier

Musik



Krakeeler und BDS-Aktivisten haben Schaum vorm Mund: Eden Golan hat für Israel den Sprung ins Eurovision-Finale geschafft, das heute Abend stattfindet. Auf den Straßen von Malmö bestimmen diese Aktivisten dennoch die Atmosphäre und sorgen für teils hässliche Bilder. Im FAZ-Kommentar vermisst Alfons Kaiser die "Zeiten, als die Kandidaten des Eurovision Song Contest (ESC) noch auf offenen Booten durch Rotterdam oder Belgrad schipperten und auf der Straße vor ihren Hotels Autogramme verteilten!" Anders 2024: "Am Donnerstag forderten etwa 10.000 Menschen unter Mitwirkung Greta Thunbergs den Ausschluss Israels vom Wettbewerb und skandierten teils antisemitische Parolen. ... Die israelische Kandidatin Eden Golan muss um ihre Sicherheit fürchten und sich an unbekanntem Ort aufhalten, eine öffentliche Partymeile wurde abgesagt, die Polizei in der an Konflikte gewöhnten südschwedischen Stadt holt Verstärkung aus Dänemark und Norwegen."

Jan Feddersen bestätigt in der taz: "So was hat es in der Geschichte des Eurovision Song Contest noch nie gegeben: dass eine Sängerin von ihrem Hotel in die Malmöer Arena, wo sie am zweiten Semifinale dieses Pop-Festivals teilnimmt, in einem Hochsicherheitskonvoi befördert werden muss." Unter den tausenden Menschen, die in Malmö mitunter einschlägige Hetzparolen skandierten, war auch Malena Ernman, Greta Thunbergs Mutter, die 2009 beim ESC in Russland für Schweden antrat und das "trotz extrem homophober Stimmung in der russischen Hauptstadt, wo am Tag des Song Contests zuvor ein kleiner CSD brutal zerschlagen wurde und trotz schon damals repressiver Politik des russischen Präsidenten kein politisches Boykottwort verlor. Ernman war es nun, die die in Schweden die Künstlerinitiative beförderte, Israel auszuschließen." Außerdem gibt Feddersen in der taz seine Tipps zum Endergebnis ab.

Thomas Ribi (NZZ) hält die Bilder auf Malmö aus den letzten Tagen für "traurig. Und in dieser Form beispiellos. Nur, politische Nebentöne gehören zum ESC, seit es ihn gibt", auch wenn sich die Veranstaltung stets anders darzustellen versuchte. "Unpolitisch war der Eurovision Song Contest nie. Aber jetzt ist er zur antiisraelischen Kundgebung geworden." Alex Rühle liefert in der SZ ein Stimmungsbild aus Malmö seit dem 7. Oktober: Zu Ausschreitungen gegenüber jüdischen Einrichtungen sei es zwar nicht gekommen, doch das vor dem Terrorakt bestehende "institutionelle Miteinander zwischen den Gruppierungen ist zusammengebrochen". Und Peter-Philipp Schmitt stellt in der digitalen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" den Schweden Alexandro Kröger vor, der seit vielen Jahren den ESC mit Lego nachstellt.

Themenwechsel: Wer die aktuelle Popmusik im Niedergang begriffen sieht, weil Hits aus den Achtzigern auch heute noch oft aus dem Stegreif mitsingbar sind und nach Epoche klingen, was sich vom Großteil der Popmusik der Gegenwart in ein paar Jahren wahrscheinlich nicht behaupten lassen wird, hat einfach nur nicht begriffen, welchem Wandel Pop seit Jahren unterworfen ist, schreibt Joachim Hentschel in der SZ: "In Wahrheit haben sich spätestens seit den Neunzigern nun mal völlig neue ästhetische Quellen, Wurzeln und Hörgewohnheiten etabliert. Neue Abspielgeräte, Verhaltensmuster, Öffentlichkeiten, und wer weiß, was sonst noch alles. Überhaupt: eine andere Funktion, die Pop als Spiegel- und Transportmedium für Ideen erfüllt. ... Songtexte stehen - wie im Rap - stärker im Vordergrund, fungieren oft wie Hörbücher, Rätselspiele, zitierfähige Gesinnungsfibeln."

Weitere Artikel: Manuel Brug porträtiert für die WamS den französischen Geiger Renaud Capuçon. Martin Scholz plaudert für die WamS mit dem Rocksänger Caleb Followill von der Band Kings of Leon.

Besprochen werden  ein Konzert von Igor Levit (NZZ), Shabakas "Perceive Its Beauty, Acknowledge Its Grace" (FR). Mdou Moctars Album "Funeral for Justice" (taz), Ana Lua Caianos Debütalbum (taz), eine Wiederveröffentlichung von Agustín Pereyra Lucenas Debütalbum von 1970 (taz), das Album "Tëdd Ak Mame Coumba Lamba Ak Mame Coumba Mbang" der Band Ndox Electrique (taz), das neue Soloalbum der Portishead-Sängerin Beth Gibbons (WamS) und die tolle Compilation "Congo Funk!" mit ziemlich mitreißenden Aufnahmen aus den Sechzigern bis Achtzigern aus Kinshasa und Brazzaville (taz). Hier das erste Stück:

Archiv: Musik

Literatur

Paul Jandl hat in der NZZ endgültig genug vom literarischen Trend der Autofiktion: "In der Kunst ist alles möglich", aber alle wollen nur über "Selbsterfahrenes" schreiben. Was diese Romane "im Ästhetischen auszeichnet, ist ein blässlicher und uniformer Realismus, der der Wirklichkeit aber auch wirklich nichts schuldig bleiben will. ... Heute herrscht der von den Verkaufsabteilungen der Verlage oft selbst hergestellte Eindruck, dass zwischen den Autor und sein Werk kein Blatt passe. In Fragen der Authentizität reichen sich streberhaft wirkende Autorenlebensläufe und Verlagsmarketing die Hände. ... Romane sind Anverwandlungen der Wirklichkeit, Erinnerungen an Gewesenes und Erfindungen dessen, was gewesen sein könnte. Alles im Schatten möglicher Täuschungen und Selbsttäuschungen. Der autofiktionale Autor wird sich, wenn er nicht durch die Vorstellung verbiestert ist, im Besitz von Wahrheiten zu sein, diesem Spiel ausliefern."

Weitere Artikel: Fürs Kaput Mag spricht Luca Glenzer mit Christof Meueler über dessen Wiglaf-Droste-Biografie. Ioannis Dimopulos schreibt im Freitag über Kafka. Sigrid Weigel erinnert in der digitalen "Bilder und Zeiten"-Beilage der FAZ an Walter Benjamins Reise nach Capri im Jahr 1924. Werner Völker schreibt in "Bilder und Zeiten" darüber, wie Goethe 50 Jahre nach dem Erscheinen des "jungen Werthers" von dem Buch eigentlich nichts mehr wissen wollte. Harry Nutt (BLZ) und Michael Martens (FAZ) schreiben zum Tod des Schriftstellers Ivan Ivanji.

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Das versteinerte Herz" (FR), Terézia Moras Übersetzung von Dénes Krusovszkys Erzählbandes "Das Land der Jungen" (taz), Bücher von der und über die Schriftstellerin Gabriele Tergit (NZZ, FR), Laura Leupis Debütroman "Das Alphabet der sexualisierten Gewalt" (taz), Caroline Wahls "Windstärke 17" (SZ) und Ronya Othmanns "Vierundsiebzig" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Autofiktion

Film

Lukas Foerster und André Malberg resümieren im Perlentaucher die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Foerster rekonstruiert noch einmal die bizarren Dynamiken, die sich aus den wohl bewusst bösartigen Missdeutungen eines Facebook-Postings von Festivalleiter Lars-Henrik Gass ergaben, der sich kurz nach dem 7. Oktober mit Israel solidarisiert hatte. Die Folgen daraus lassen sich wohl wirklich nur mit der "pathosbesoffenen Komplettunentspanntheit" der heutigen "Social-Media-Diskursgegenwart" erklären. Foersters Fazit: "Wie aber ist diese elendige Vorgeschichte hinterher zu bewerten, nach einem krawallfreien und auch sonst weitgehend erfolgreich absolvierten Festivalausgabe? Die diversen diskursiven Verengungen und Verkrampfungen, die unsere Mediengesellschaft prägen, werden wir nicht so schnell los werden. Aber den Beweis, dass es möglich ist, ein anregendes, dem friedlichen Diskurs verpflichtetes und, ja, auch diverses Filmfestival zu organisieren, ohne sich von humorbefreiten Schreihälsen vor sich her treiben zu lassen, den haben die Kurzfilmtage Oberhausen dieses Jahr erbracht." Weitere Resümees schreiben Stefan Laurin (Jungle World) und Lukas Barwenczik (Filmdienst).

Weitere Artikel: Jakob Thaller spricht für den Standard mit dem iranischen Regisseur Alireza Khatami, der in seinem satirischen Episodenfilm "Irdische Verse" den teils bizarren Alltag in Iran aufs Korn nimmt. Axel Weidemann gratuliert in der FAZ der Schauspielerin Sabine Postel zum 70. Geburtstag. Marie-Luise Goldmann erinnert in der Welt daran, wie Alfred Hitchcock einst im Carlton Hotel in Cannes "Über den Dächern von Nizza" drehte. Besprochen werden die ARD-Serie "Die Zweiflers" (für die SZ online nachgereicht vom TA, BLZ), Wes Balls neuer "Planet der Affen"-Film (Welt), der neue Garfield-Animationsfilm (Standard), neue Kinofilme über Väter (TA) und die ARD-Serie "Player of Ibiza" (Zeit Online).
Archiv: Film

Kunst

Cao Fei, Oz 01, 2022, Photograph, © Cao Fei 2024, Courtesy Sprüth Magers and Vitamin Creative Space


Wie werden die Städte der Zukunft aussehen, die von der Digitalisierung geprägt sind? Einen Vorgeschmack darauf bekommt FAZ-Kritikerin Laura Helena Wurth im Münchner Lenbachhaus in der Ausstellung "Meta-mentary" der chinesischen Künstlerin Cao Fei (die Webseite zur Ausstellung scheint leider gerade kaputt zu sein): "Sie baut theaterhafte Szenerien, in die man eintauchen kann. Da wird das oft gebrochene Versprechen auf Immersion eingelöst. Für ein paar Momente ist man mit ihrem ältesten Avatar China Tracy in RMB City, ihrem bisher umfangreichsten Projekt, unterwegs. Es war von 2009 bis 2011 in der Onlinewelt Second Life geöffnet. Das 'RMB City Projekt' war ein umfangreiches Stadtplanungsprojekt, wenn man so will, in dem erprobt wurde, wie ein digitales Leben aussehen könnte, das nicht losgelöst von der analogen Welt existiert. Später hat Cao Fei ein Video geschnitten, in dem sie die Entwicklung der Stadt nachzeichnet. In diesem Projekt wurde bereits Existierendes neu realisiert. Man konnte zum Beispiel architektonische Marksteine wie Rem Koolhaas' Sendezentrale von China Central Television erkennen ... Selbst ein großes Museum in Peking hatte eine eigene Filiale eingerichtet, dazu gab es Kunstinitiativen und Ausstellungen, bei denen die Stadtbewohner - Menschen, die im Second Life unterwegs waren - sich trafen."

Weiteres: Im Centre Pompidou Metz haben zwei Frauen Courbets Gemälde "Ursprung der Welt" mit "me too" besprüht, meldet der Standard. Das durch Glas geschützte Gemälde wird noch auf Schäden untersucht. Verantwortlich sein will die Performancekünstlerin Deborah de Robertis, die erklärte, sie habe die Attacke organisiert und eine dritte Aktivistin losgeschickt, eine Stickerei der französischen Künstlerin Annette Messager zu stehlen.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung über das Bauhaus und den Nationalsozialismus in der Klassik Stiftung Weimar (taz, Welt), Kader Attias Ausstellung "J'accuse" in der Berlinischen Galerie (FR), eine Ausstellung mit Werken aus der Sammlung Harald Falckenbergs in der Potsdamer Villa Schöningen (Tsp) sowie die Ausstellung "Wälder. Von der Romantik in die Zukunft", die auf drei Museen verteilt ist: dem Senckenberg Museum und dem Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt am Main und dem Sinclair-Haus in Bad Homburg (SZ).
Archiv: Kunst

Design

Die Ausstellung "Bauhaus und Nationalsozialismus" in der Klassik Stiftung Weimar sorgt für Graustufen im sonst vorherrschenden historischen Bild vom Bauhaus, das von den Nationalsozialisten unterdrückt wurde und zu diesen auf Distanz ging, schreibt Sophie Jung in der taz. Zwar wurden einige Bauhauskünstler verfolgt und manche sogar in den Konzentrationslagern ermordet. Einige machten aber auch Karriere - Fritz Ertl etwa gestaltete Pläne für das KZ Auschwitz-Birkenau. Und die Nationalsozialisten konnten der klaren Bauhaus-Linie ästhetisch durchaus etwas abgewinnen - für Zeitungsporträts ließ sich Hitler auch mal im Freischwinger ablichten. "Die Moderne als rationales Projekt, sie findet bei Ertls Architekturplänen ihren düstersten Abweg. ... Die Produktwelt des Reichs liegt zwischen braunem Mief und Fortschrittsversprechen. Es ist daher eine zu einfache, vielleicht zu schöne Erzählung, die serifenlose Schrift am schmiedeeisernen Tor des KZ Buchenwald mit dem zynischen Spruch 'Jedem das Seine' sei ein stiller Widerstandsakt des Bauhäuslers Franz Ehrlich gewesen. Der Kommunist wurde 1938 als Buchenwaldhäftling dazu gezwungen, das Tor zu gestalten, seine modern-runde Typografie war nicht subversiv, sie hat der SS einfach gefallen."

Silke Wichert hat in der NZZ viel Freude an den Auftritten von Lauren Sánchez, der Verlobten von Jeff Bezos, bei öffentlichen Anlässen: Stilkritiker mögen mit den Augen drehen, aber "wenn Stilberater immer sagen, man solle seinen eigenen Stil finden - voilà!".
Archiv: Design
Stichwörter: Bauhaus, Nationalsozialismus

Bühne

Sina Martens und Gabriel Schneider in "Spielerfrauen" am BE. Foto: Jörg Brüggemann


In ihrem Stück "Spielerfrauen" erzählen Lena Brasch und Sina Martens am Berliner Ensemble von Frauen, Klischees und Machtmissbrauch. Aber mit sehr viel Witz, versichert Peter Laudenbach in der SZ: "Die Pointe ist natürlich, dass die dampfende Steinzeit-Männlichkeit bestens gelaunt vorgeführt wird. Späßchen sind am Ende vernichtender und sowieso unterhaltsamer als gegenderte Ideologie-Rechthaberei. Klischees sind an diesem Abend dazu da, genüsslich mit ihnen zu spielen, bis sie mit einem kleinen Knall explodieren: Puff!" Nachtkritikerin Elena Philipp bescheinigt dem Abend "durchschlagende Wirkung", meint aber auch, dass Brasch und Martens offene Türen einrennen: "#MeToo als Thema" sei im Theater "längst Mainstream. Allein am Berliner Ensemble gibt es mit Inszenierungen wie 'Revolt. She said. Revolt Again.' von Christina Tscharyiski (2018), 'It's Britney, Bitch', der Debüt-Inszenierung von Lena Brasch (2022) oder '#MotherFuckingHood' von Jorinde Dröse (2024) eine ganze Reihe von theatralen Diskursbeiträgen zu Fragen von Gender, Gewalt und Geschlechterungerechtigkeit." Im Tagesspiegel bespricht das Stück Christine Wahl.

Weiteres: Leopold Lippert berichtet in der nachtkritik vom Mainzer Theaterfestival für junge Regie "Plug & Play". Besprochen werden außerdem Peter Konwitschnys Inszenierung von Wagners "Rheingold" an der Oper Dortmund (FR), Nuran David Calis' Adaption von Emine Sevgi Özdamars Roman "Ein von Schatten umgrenzter Raum" im Carlswerk des Kölner Schauspiels (taz) und das Stück "Unsere Elf" von Regisseur Tuğsal Moğul und Dramaturgin Maren Zimmermann am Schauspiel Hannover (SZ).
Archiv: Bühne