Vorgeblättert

Hafid Bouazza: Paravion. Teil 1

06.07.2005.
Kap. III

1

Hör zu.
     "Hatscha!"
     Und nochmal: "Hatscha!"
     Das ist schon besser. Noch nicht perfekt, aber besser, viel besser. Er macht Fortschritte.
     Das ist Paravion - siehe, seine Minarette sind schon zu erkennen. Stolz wie erhobene Mittelfinger erheben sie sich zenitwärts und lassen die demutsvoll hingekauerten Kirchtürme hinter sich. Noch höhere Minarette waren bereits im Bau, und die allerhöchsten wurden gerade entworfen. Nicht mehr lange, so lautete ein Gerücht im Teehaus, und alle Kirchen werden sich in Moscheen verwandeln. Das sei nur eine Frage der Zeit, sagte der Teppichverkäufer, der mehr mit der Spitze des Kinnbarts zu sprechen schien als mit dem Mund. Die übrigen Gäste nickten.
     Der Name des Cafes lautete Bar Zach. Es war keine echte Bar, das heißt eine, in der Alkohol ausgeschenkt wurde, nein, der Wirt wollte nur einen modern klingenden Namen. Jeder aus Morea kam hierher, um unter Seinesgleichen zu sein, sich zu akklimatisieren und im neuen Land allmählich die ersten Schritte zu tun sofern man sich überhaupt bewegte. Hier trank man zischende und sprudelnde Limonaden, zum Beispiel Orangina, Crush und Judor ("Das Getränk der Jugend"). Sie schmeckten nach Orangen, Moreas Frucht par excellence. Außerdem servierte man hier das erfrischende La Cigogne, dessen Flasche ein Storchrelief zum Signet hatte. Das Getränk kitzelte in der Nase wie ein Nieser, der partout nicht raus wollte. Die beiden beliebtesten Getränke aber waren Cola Maroca und Zam Zam Cola, anregend und mit Kohlensäure, aber auch mit E 120 bis inklusive E 160 versetzt. Der Geschmack von Vaterland in Flaschen, denn die Getränke waren durchweg moreanische Marken. Bei den Flaschen stand auch eine Flasche Apfelshampoo, sie war aus Versehen dazwischengeraten, gehörte eigentlich dem Karrenlenker, der es einfach nicht fassen konnte, daß man aus Granny-Smith-Äpfeln Shampoo machte. Stellt euch das mal vor! Noch so ein technisches Wunder von Paravion. Der Teppichhändler weigerte sich daraufhin, Äpfel zu essen: "Ich will keinen Schaum im Magen ", sagte er.
     Das Teehaus war voll von Stimmen und haarsträubenden Geschichten und vom Geruch von Krauseminze: alte Bekannte. Die neuangekommenen sieben Männer waren schon vor Jahren in den Kreis aufgenommen worden. Sie unterhielten sich angeregt: "Glaub mir, es geht nichts über Telefunken!"
     "Grundig besser geht s nicht."
     "Ich will mal einen Mercedes Benz."
     "Halla! Mein Traum ist ein Honda Civic."
     "Ach, haltet doch alle den Mund! Ein Golf GTI, das wär s. Halla! Und bei einem Ford Escort oder Transit würde ich auch nicht nein sagen!"
     Sie fielen sich schreiend ins Wort, brummten wie die Motoren der genannten Autos, und träumten mit Augen, die bisher nur Simcas und Peugeots 205 erblickt hatten. Der Fischer war der einzige, der einen echten Mercedes hatte, denn er verdiente viel Geld mit dem Handel von Mutterkorn und Cannabis, die er bei Cheira und Heira ertauschte. Seit kurzem jedoch waren die Lieferanten verschwunden; vermutlich gestorben. Jetzt hatte er keine Ware mehr und mußte sich etwas einfallen lassen, vielleicht könnte er den Mercedes an einen der Brüder verkaufen. Sein Ansehen stand auf dem Spiel. In seinem Rausch nickte er und trank lächelnd seinen Tee.
     Auf der Vorderseite des Hauses hing ein Schild: FÜR FRAUEN VERBOTEN! Das Gebäude war viereckig, die Schatten in seinem Innern waren rotbraun, die Theke bestand aus einem Brett, das auf zwei Fässern ruhte; dahinter diente ein kleiner blau-weiß gekachelter Alkoven als Küche; dort stand ein Gasherd, auf dem Tee gekocht wurde, aber auch Suppen und Eintöpfe aus Hühnerfleisch, Kartoffeln und Oliven. In Mauernischen standen Öllampen - das sparte Strom. Das Teehaus müßte eigentlich dringend vergrößert werden, denn die Zahl der Gäste stieg ständig. Es befand sich am Haupteingang von Paravion und fungierte, wie bereits erwähnt, gewissermaßen als Empfangshalle für Neuankömmlinge. Davor stand in geplättelter Erde der Baum mit den glasierten Äpfeln. Der Boden hier war feucht und fruchtbar. In den Grünanlagen um das Teehaus herum blühten Rosen, häufig besucht von glücklichen Bienen.
     Ein Teil des Gebäudes war eingerüstet, und die Bauarbeiter tranken noch vor Arbeitsbeginn Tee und aßen Gebäck. Doch gingen sie während ihrer Brotzeit so im Betrachten der Passanten (- /w) auf, daß die Zeit bis zum Anbruch der Siesta rasch verging und es danach zum Arbeiten natürlich zu heiß war. Ein Mittagsschläfchen aber würde sie gewiß erfrischen. Wie sie bei alledem zu den Farbspritzern auf Kleidern und Händen und zu den schwarzen Rändern unter den Nägeln kamen, war ein Geheimnis des Lebens. Sie schlürften, schmatzten und rülpsten.
     Die Frauen von Paravion zeigten viel nackte Haut, die Palmsprößlinge ihrer durchsichtigen Gliedmaßen und meist bepunkteten Busen waren appetitlich anzusehen und erfüllten die Besucher des Teehauses mit Geilheit und Ekel gleichermaßen. Doch wirklich schamlos waren erst die Wesen im grünen Zentrum von Paravion, dort, wo jegliche Bekleidung verboten zu sein schien. Zum Glück befand sich das Teehaus im Ostteil des Parks, also weit von diesem Ort des Sittenverfalls entfernt.
     Gegenüber befand sich die Pizzeria Süzülien, wo die schnauzbärtigen Ober ein merkwürdiges Italienisch sprachen, und wiederum daneben stand ein weiteres Gasthaus, Shalaam - Marijkens Lieblingsrestaurant -, es war auf Falafel spezialisiert. Die Teehäusler unterhielten kaum Kontakte zu den Gästen des Shalaam. Die Bauarbeiter erhoben sich und trugen das Tablett mit der Teekanne und den Gläsern hinein. Pffft, sie seien müde, jetzt erst mal ein kleines Schläfchen, am frühen Nachmittag werden sie wiederkommen, um weiterzuarbeiten. Der Wirt nickte und grüßte zurück. Durch einen Wasserfall bunter Perlen hindurch traten sie auf die Straße. Der Postbote bastelte an seinem Solex herum, wie jeden Tag. In Paravion gab es keine Ersatzteile dafür, und so mußte er sich mit Draht, Bindfaden und sogar Klebeband behelfen. Den Traum, sich ein neues Solex anzuschaffen, hatte er schon längst aufgegeben. Die Marke gab es hier nicht. Und sollte sich sein Solex nur noch auf Krücken vorwärtsbewegen, er würde sich trotzdem nie davon trennen. Er war in Paravion zu einer Sehenswürdigkeit geworden, und man hatte ihm schon viel Geld für seinen fahrenden Untersatz geboten, doch er wollte es nicht verkaufen. Er hätte es zu gern gegen ein anderes Solex eingetauscht, doch das einzige, das er je zu Gesicht bekommen hatte, stand im Schaufenster eines Museums oder einer Kunstausstellung oder in einer ähnlich verrückten Institution, von denen es in Paravion so viele gab.
     Im Teehaus lief ein Fernseher, der auf einen moreanischen Sender eingestellt war. Es wurden gerade Bilder vom Narvelmeer gezeigt, wo die Guardia Civil ein paar Schiffbrüchige herzlich willkommen hieß. Manche Flüchtlinge hatten die Überfahrt schon öfter gewagt und stellten sich als alte Bekannte der Ordnungshüter heraus. Sie wurden vor der Kamera begrüßt wie alte Freunde und dann zurückgeschickt wie Hunde.
     "Wenn sie nicht auf dem Weg nach Paravion sterben", sagte der Fischer und schaute wie immer sehr aufmerksam hin, denn er hoffte, einmal doch einen Blick auf sich selbst erhaschen zu können, "dann sterben sie, wenn sie nach Morea zurückgehen." Daß er an seiner Welt voller Leichen und Eulen nicht verzweifelte, hatte er dem Cannabis zu verdanken. Mit seiner Bemerkung spielte er auf die Abwesenheit des Lehrers und des Eseltreibers an, die aus Morea nicht mehr wiedergekommen waren. Der Apfelverkäufer nickte. Vielleicht lag es am Heimweh. Niemand überlebte die endgültige Rückkehr in sein Heimatland. Das war bekannt. Nur als Leiche akzeptierte einen die Erde dort noch.
     Die Anwesenden saßen auf reglosen Teppichen und lehnten sich gemütlich an die Wände. Das Teehaus bestand nur noch aus nackten Fußsohlen und aus Geschlürfe, der Eingang war versperrt von einem Stapel Babuschen, und der Weihrauch hatte Mühe, den Fuß- und Schweißgeruch zu überdecken. Der Karrenlenker aus Stroh nieste unaufhörlich. Seine Lungen waren dank der heilsamen Luft Paravions genesen. Sie schieden kaum noch Heu ab, obwohl es ihm vorkam, als schüttelte der alte Wagen noch immer sein Rückgrat durch. Das Gehen auf den schnurgeraden Wegen von Paravion fiel ihm schwer, denn er war sein Hinken noch nicht ganz los. "Linien und Sicheln, Linien und Sicheln ", murmelte er rhythmisch, um seine rastlosen Füße zu führen. Noch immer geschah es, vor allem, wenn er in den verbotenen Gegenden mit den roten Lichtern herumstreunte, daß er hochfederte und dabei "Hu!" rief, um seinem innerlichen Erbeben Einhalt zu gebieten. Ein Arzt hatte ihm Medikamente gegen das Zucken verschrieben. Aber er fühlte sich hier noch nicht zu Hause, und besser ging es ihm auch nicht, obwohl seine neue Art zu niesen immerhin darauf hinwies, daß er sich an den neuen Ort doch etwas anpaßte.
     "Und, hat's noch geklappt?" erkundigte sich der Teppichverkäufer. Er allein kannte sämtliche Wege Paravions und alle Schleichwege durch die Sozialämter und Initiativen. Nur den Weg zum Zahnarzt schien er nicht zu kennen, denn sein Gebiß zerbröckelte zur Ruine: Efeu klammerte sich an seine zackenrandigen Zähne, am Gaumen wuchs ihm Unkraut, und ab und zu spuckte er ein paar tote Insekten aus. Könnte ein faulender Wald lachen, dann müßte das wohl so aussehen. Alles, was er brauche, sei die Rinde des Walnußbaums, aber versuch das mal einem Arzt im weißen Kittel klarzumachen. Und daß der gelehrte Doktor sich die Mühe mache, seine Sprache zu begreifen? Pah! Dies war das Leitmotiv in den Monologen des Teppichhändlers.
     "Und die Sprache von den Leuten hier", sagte er jetzt, "so redet doch kein Mensch! Das klingt doch wie das Krächzen und Pfeifen von Vögeln!" Er war ein vortrefflicher Imitator, und das ganze Teehaus lachte. Er verschluckte sich an einem Efeublatt, das sich gelöst hatte, und spuckte murrend eine kleine verdreckte Schlammpfütze auf den Boden. "Erinnert euch später an meine Worte: Eines Tages werden alle hier unsere Sprache sprechen."
     Draußen näherte sich langsam das Gebimmel von Schafglöckchen. Der alte Schäfer trieb seine Herde von den grünen Tälern nach Hause, um seinen Nachmittagstee zu trinken. Eine Schattenlivree aus roten und grünen Tupfen bedeckte noch Hände und Gesicht und das Fell der Tiere. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er wollte etwas rufen, aber alles, was er hervorbrachte, war ein quietschendes Pfeifen. Als er ins Teehaus gestolpert kam, sahen die anderen, was los war: Dem Schäfer war die Flöte im Hals steckengeblieben. Er war ganz blaß, zitterte und ruderte wild mit den Armen. Der arme Mann war am Ersticken.

Teil 2