Vorgeblättert

Anne Frank ist tot. Anne Frank lebt, wie Tote zu leben pflegen.

Anne Frank ist tot. Anne Frank lebt, wie Tote zu leben pflegen. Philip Roth lässt sie, wir sahen es, als Amy Bellette weiterleben. Ein durchtriebenes Luder, sehnsüchtig, verzweifelt, aber wenigstens lebendig. Und ganz bestimmt nicht die Ikone, die man, landauf, landab aus Anne gemacht hat: das gütige, verständige Mädchen. Nach Philip Roths Anne Frank hätte man die vielen Schulen und Straßen in Deutschland bestimmt nicht benannt. Der Name der echten Anne Frank ist heute allgegenwärtig. Ihr Buch wird immer noch gelesen, ist Schulstoff, in vielen verschiedenen Buchformaten zugänglich. Das Anne Frank Haus in Amsterdam wird jährlich von Hunderttausenden Touristen besucht; im Jahr 2019 waren es über eine Million. Das Theaterstück indessen, das vor über sechs Jahrzehnten um die Welt ging, sieht man nur noch selten auf der Bühne. Doch gibt es neue Filme. Ari Folmans Film "Wo ist Anne Frank" von 2023 lässt Kitty in die Welt von heute eintauchen und Partei für Geflüchtete ergreifen. Der Film entwirft ein Panorama dessen, wofür Anne Frank heute steht. Kitty legt sich mit den Mächtigen an und gelangt zeitversetzt in unsere Gegenwart, die wir mit ihren verwunderten Augen neu sehen. Graphic Novels, Mangageschichten kommen auf den Markt, Installationen und andere Produktionen sind in Museen zu sehen. Es gibt in der neueren Geschichte kein Buch, das seine Autorin so berühmt gemacht hat und deren Name so sehr programmatischen Klang hat. Nur: ein Programm von was? Vor allem aber auch: für wen?
     "Ich will fortleben, auch nach meinem Tod", hatte Anne Frank ihrem Tagebuch anvertraut. Dieser Wunsch hat sich erfüllt, durch ihr Tagebuch. Die Biographie eines Buches ist etwas anderes als die seiner Autorin. Das hat Anne Frank mit ihrer traumwandlerischen Sicherheit in allem, was ihr Schreiben betraf, erkannt. Manche Bücher erheben den Anspruch auf Unsterblichkeit. Manche lösen ihn ein. Wie das Tagebuch der Anne Frank.

Das öffentliche Werk

Es gibt im 20. Jahrhundert kein Buch, dem man diesen öffentlichen Status zuerkennt, auf das Brechts Wort vom Buch als "geheiligter Ware" so sehr zutrifft wie auf das Tagebuch der Anne Frank. Man könnte es auch ein Buchwunder nennen.
     Das ist es zunächst in ökonomischer Hinsicht: Die Taschenbuchausgabe verkauft sich allein in Deutschland Jahr für Jahr in höherer fünfstelliger Zahl. Aber auch darüber hinaus: Das Anne Frank Haus in Amsterdam haben bis heute Millionen Menschen besucht. Das Tagebuch ist im Shop nur ein Buch unter vielen, ein ganzes Arsenal von anderen Büchern, Filmen umstellen, ergänzen es oder begraben es unter sich. Kinder können in einem Spiel das Hinterhaus in der Prinsengracht im Maßstab originalgetreu nachbauen.
     Von Beginn an begriff Otto Frank ihr Tagebuch als Vermächtnis seiner Tochter. Die Honorareinnahmen, die in den 1950er Jahren anwuchsen, betrachtete er als "Annegeld", das er nicht anrühren wollte, "als dessen Verwalter" er sich eigentlich nur fühlte.
     Im Mai 1957 war durch die Initiative anderer Menschen nicht von Otto Frank - in Amsterdam die Anne Frank Stichting (Stiftung) entstanden, um das Haus in der Prinsengracht 263 zu erwerben und als Gedenkstätte einzurichten. Im Herbst 1957 schenkte die Amsterdamer Firma Berghaus, der die Immobilie gehörte, der Stiftung das Haus. Das Nebenhaus konnte durch Spenden erworben werden. Am 3. Mai 1960 schließlich öffnete das Anne Frank Haus, das Otto Frank gerade nicht als Museum sehen wollte, wie er in einer programmatischen Schrift begründete: "Schon bei den Vorbesprechungen über die Erhaltung des Anne Frank Hauses habe ich darauf hingewiesen, dass dieses Haus weder Museum noch Wallfahrtsort werden darf. Es soll allerdings eine ernste Mahnung aus der Vergangenheit sein und ein hoffnungsvoller Auftrag für die Zukunft."
     Otto Frank wollte keinen kultischen Ort. Er wollte seine Tochter durch das erinnert sehen, was sie geschrieben hatte. Dem Vater schwebte eine Begegnungsstätte für Jugendliche vor, mit Vorträgen, Kursen, Fortbildungen und Diskussionen über Antisemitismus, engagiert für Völkerverständigung, gegen Vorurteile - in den Grundzügen das, was die Anne Frank Zentren in Frankfurt, Berlin und anderswo als ihren Auftrag verstehen.
     In Amsterdam indessen entstand ein Museum.
     Das Tagebuch der Anne Frank hat bis heute einen singulären Status als ein Werk, das ein öffentliches Anliegen vertritt und das darum in die Obhut der Öffentlichkeit - des Staates wie der Gesellschaft - gehört. Diese Erwartung von Otto Frank hat sich erfüllt. Bundespräsident Heuss besuchte 1956 eine Aufführung des Theaterstücks in München und setzte damit einen symbolischen Akzent. Der Machthaber in der DDR, Walter Ulbricht, wollte um die gleiche Zeit einen Film fördern, der 1959 unter dem Titel Ein Tagebuch für Anne Frank in den Kinos der DDR herauskam. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy ließ einen Kranz im Anne Frank Haus niederlegen. Ein Jahrzehnt später blieben dem westdeutschen Staatsoberhaupt dessen Türen verschlossen. Ungefähr zur gleichen Zeit las Nelson Mandela das Tagebuch der Anne Frank als Charta des Widerstands, auch für die afrikanische Befreiungsbewegung. Die Niederlande brachten 1986 eine Staatsausgabe des Tagebuchs heraus und stellen das Leugnen von dessen Authentizität unter Strafe.
     Neben die eigene Lektüre trat lange Zeit der offizielle Status. Das Tagebuch scheint etwas zu repräsentieren, was über den Inhalt hinausreicht, was nicht allein etwas darstellt oder beschreibt, sondern an uns, die Lesenden, appelliert. Das öffentliche Werk ist zuallererst das populäre Werk vor allem durch Anne Franks Sätze, die Plaketten, Plakate, Briefe, Poesiealben zieren: "Und dennoch glaube ich an das Gute im Menschen", "Ein Mensch kann einsam sein, trotz der Liebe von vielen, denn für niemanden ist er der "Liebste", "Reichtum, Ansehen, alles kann man verlieren. Aber das Glück im eigenen Herzen kann nur verschleiert werden und wird dich, solange du lebst, immer wieder glücklich machen." Es waren auch diese Sentenzen, die Anne Frank und ihr Tagebuch berühmt machten. Es sind Sprüche aus dem Poesiealbum, etwas sentimental, aber auch nicht ganz verkehrt. Sie erinnern an Saint-Exupéry. Aber bei Anne Frank treten sie neben die Schilderung der harten Wirklichkeit.
     Das Publikum nahm sich das Tagebuch der Anne Frank jedenfalls zu Herzen. Im Kino, im Theater, in den Buchhandlungen war es ein Kassenschlager. Die Intellektuellen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern hielten sich indessen weitgehend zurück und überließen den Erfolg dem Publikum: die Schrecken wie Wonnen der Gewöhnlichkeit. Das Buch war ein Solitär: ein Zeugnis von Verfolgung und Bedrohung, welches das spätere Grauen in den Vernichtungslagern nicht mehr schildert. Und doch kommt es im Tagebuch zur Sprache. Es bildet eine Synthese von Idylle und Schrecken. Klar, aber nicht grausam, eine Liebesgeschichte in Zeiten des Krieges, die Geschichte der heranwachsenden Anne mit allen Fragen und Problemen, die Mädchen in ihrem Alter haben. Damit identifizierten sich 14-, 15- und 16-jährige Leserinnen und sie tun es heute noch. Das alles im Inferno des besetzten Amsterdam von 1942 bis 1944. Das Tagebuch endet am 1. August 1944, drei Tage vor der Verhaftung der acht Untergetauchten. Sieben Monate später das entsetzliche Ende im KZ Bergen-Belsen, das im Tagebuch als Furcht vor dem kommenden aufscheint.
     Auch historisch war es ein Solitär, weil es Ende der 1940er Jahre kein vergleichbares Werk veröffentlicht gab. Die vielen Dokumentationen und Tagebücher erschienen erst später. Immer wieder zeigt sich in der Korrespondenz mit Otto Frank die Schwierigkeit, ein Etikett für das Tagebuch zu finden: Ist es ein "Kriegsbuch"? Ein humanistisch universelles Tagebuch? Liest man es als Literatur oder Zeitgeschichte? Gehört es zur jüdischen Literatur oder ist es ein Werk der Exilliteratur? Oder ist es ein Teil von alldem? In diesen Fragen lebt Anne Frank fort, weil es keine definitiven Antworten gibt.

Deutsche und Juden

Ein Absatz des Tagebuchs hat in dessen Wirkungsgeschichte große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Anne Frank notiert ihn am 9. Oktober 1942:
     "Ein schönes Volk, die Deutschen, und da gehöre ich eigentlich auch noch dazu! Aber nein, Hitler hat uns längst staatenlos gemacht. Und im Übrigen gibt es keine größere Feindschaft auf dieser Welt als zwischen Deutschen und Juden."
Der Satz der 13-Jährigen erschien in der ersten Ausgabe des Tagebuchs in der Übersetzung leicht verändert: Es gebe keine größere Feindschaft "als zwischen diesen Deutschen und Juden".
     "Die Gestapo geht nicht im Geringsten zart mit diesen Menschen um. Sie werden in Viehwagen nach Westerbork gebracht, dem großen Judenlager in Drente. Miep hat von jemandem erzählt, der aus Westerbork geflohen ist. Es muss dort schrecklich sein. Die Menschen bekommen fast nichts zu essen, geschweige denn zu trinken. Sie haben nur eine Stunde pro Tag Wasser und ein Klo und ein Waschbecken für ein paar tausend Menschen. Schlafen tun sie alle durcheinander, Männer und Frauen, und die letzteren und Kinder bekommen oft die Haare abgeschoren. Fliehen ist fast unmöglich. Die Menschen sind gebrandmarkt durch ihre kahl geschorenen Köpfe und viele auch durch ihr jüdisches Aussehen.
Wenn es in Holland schon so schlimm ist, wie muss es dann erst in Polen sein? Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben."
     Die erste deutsche Ausgabe hatten Otto Frank, die Übersetzerin und der Verleger abgemildert, wann immer Deutsche und Juden zur Sprache kamen - um das deutsche Lesepublikum zu schonen.
     Die Frage, ob ein jüdischer Autor, eine jüdische Autorin das Theaterstück schreiben solle, war der entscheidende Streitpunkt in den 1950er Jahren, ein Streit, der in den USA ausgetragen wurde, besonders in dem Prozess von Meyer Levin gegen Otto Frank. Für das deutsche Publikum war es weithin die erste bewusste Begegnung mit einer jüdischen Autorin, auch wenn man sie zumeist gerade gar nicht als solche verstand oder verstehen konnte. Im Erscheinungsjahr des Tagebuchs brachte der Suhrkamp Verlag Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert heraus. Es brauchte lange Zeit, ehe man Benjamin überhaupt als jüdischen Autor wahrnahm. Dieses Verständnis des heute weltberühmten Autors gewann man erst in den 1960er Jahren, als Gershom Scholem und Theodor W. Adorno seine Briefe herausgaben und es zu einer Kontroverse mit Hannah Arendt kam. Meyer Levin hat mit seiner wütenden Parteinahme recht: Anne Franks Judentum blieb ausgeklammert. Man verstand es nicht, verkannte es.
     Am 11. April 1944, nach einem Einbruch in der Prinsengracht 263, die herbeigerufene Polizei kam bis zum Drehschrank, hinter dem sich das Versteck befand, schreibt Anne Frank:
     "Wir sind sehr stark daran erinnert worden, dass wir gefesselte Juden sind, gefesselt an einen Fleck, ohne Rechte, aber mit Tausenden von Pflichten. Wir Juden dürfen nicht unseren Gefühlen folgen, müssen mutig und stark sein, müssen alle Beschwerlichkeiten auf uns nehmen und nicht murren, müssen tun, was in unserer Macht liegt, und auf Gott vertrauen. Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein!"
     Und es folgt eine längere Antwort auf die von Anne Frank selbst gestellte Frage "Wer hat uns das auferlegt?" samt einer Selbstvergewisserung: "Seid mutig!"
     "Deutsche und Juden - ein ungelöstes Problem" war der Titel einer Plenardiskussion während des Jüdischen Weltkongresses im August 1966 in Brüssel. Eine erste offizielle Zusammenkunft von Repräsentanten beider Völker nach 1945, die Nahum Goldmann, damals Präsident des Weltkongresses, betont nüchtern eröffnete, bevor er das Wort Gershom Scholem aus Jerusalem, 1897 in Berlin geboren, erteilte, der über Juden und Deutsche und ihr Verhältnis in den vorangegangenen 200 Jahren sprach. Er nannte das zu Beginn seiner historischen Grundsatzrede "ein melancholisches Unterfangen". Nach ihm sprach der Historiker Golo Mann, der aus der Emigration nach Westdeutschland zurückgekehrt war und bekannte:
     "Wer die dreißiger und vierziger Jahre als Deutscher durchlebt hat, der kann seiner Nation nie mehr völlig trauen, der kann der Demokratie so wenig völlig trauen wie einer anderen Staatsform, der kann dem Menschen überhaupt nicht mehr trauen und am wenigsten dem, was Optimisten früher den › Sinn der Geschichte‹ nannten. Der wird, wie sehr er sich auch Mühe geben mag und soll, in tiefster Seele traurig bleiben, bis er stirbt."
     Auf ihn folgte eine Rede des amerikanischen Historikers Salo W. Baron, eine des damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier, der auch den "Judenmord" zu erwähnen sich nicht scheute, und eine Grußbotschaft von Karl Jaspers aus Basel, der noch einmal der Schuldfrage nachging:
     "Halb wissend sind wir dabeigestanden, ohne etwas Wirksames zu tun. Daher sagte ich 1945 in meiner ersten öffentlichen Rede: "Wir Überlebende haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nicht helfen können. Dass wir leben, ist unsere Schuld".
     "Und im Übrigen gibt es keine größere Feindschaft auf dieser Welt als zwischen Deutschen und Juden", hatte Anne Frank 24 Jahre zuvor in ihrem Tagebuch notiert und so in nur einem Satz, wie nebenher, eine lange nachwirkende Geschichte - damals Zukunft, heute Vergangenheit - auf den Begriff gebracht.

Vermächtnis

1977 gab Otto Frank dem amerikanischen Journalisten Arthur Unger ein langes Radiointerview. Es liest sich wie ein Vermächtnis des 88-jährigen Vaters, der die wesentlichen Stationen seines Lebens Revue passieren lässt. Er nennt seine Tochter Anna, nicht Anne, spricht über die vielen Briefe, die er von Leserinnen und Lesern des Tagebuchs immer noch erhalte, jeden beantwortet er, über die Niederlande, denen er sich am meisten verbunden fühlte, er erinnert an den "Februarstreik", mit dem sich niederländische Arbeiter 1941 gegen die Verfolgung von Juden in ihrem Land gewehrt haben, über Deutschland, "I don't go to Germany. I never take a holiday there". Wie andere Überlebende wollte er nicht mehr dort leben, auch wenn das Werk seiner Tochter in Deutschland so großen Widerhall fand.
     Sieben Mal hatte Otto Frank über die Jahre sein Testament geändert und schließlich einen Universalerben eingesetzt: den Anne Frank Fonds. Er hatte ihn zusammen mit seiner Frau 1963 gegründet, um die Honorare zu verwalten, über das Urheberrecht des Tagebuchs zu wachen und im Sinne seiner Stiftungsidee zu wirken. Anne Franks Tagebuchblätter kamen in die Obhut des Amsterdamer NIOD, das die Staatsausgabe nachher betreute.
     Otto Frank starb am 19. August 1980 91-jährig. Im Jahr zuvor hatte er noch an einer großen Gedenkveranstaltung zum 50. Geburtstag seiner Tochter in der Westerkerk an der Seite von Kronprinzessin Beatrix teilgenommen, der späteren Königin der Niederlande. Da war sie noch einmal: die Öffentlichkeit für das Tagebuch der Anne Frank.
     Von 1980 an bis heute vertritt die Zürcher Agentur Liepman die Rechte am Tagebuch. In der Buchbranche hat die 1949 ursprünglich in Hamburg gegründete Agentur einen renommierten Namen, weithin bekannt, anerkannt, mit besten Verbindungen nach Frankreich, Italien, Israel, in die USA und nach Skandinavien. Die Agentur vertritt die Werke jüdischer Autoren wie Péter Nádas, David Grossman, Hanna Krall, die Urheberrechte der Werke von Elias Canetti, Norbert Elias oder Ida Fink, um nur sie zu nennen.
     In der Verlagswelt nannte man Liepman lange die "Liebfrauen", nach der Gründerin Ruth Liepman und den Literaturagentinnen Ruth Weibel und Eva Koralnik. Eva Koralnik war zusammen mit Vincent Frank-Steiner vom Anne Frank Fonds die treibende Kraft, das Tagebuch neu herauszubringen, zunächst in der Kritischen Ausgabe des NIOD 1986, dann in der weltweit verbindlichen Ausgabe von 1991, die Mirjam Pressler erstellt hatte. Eva Koralnik und ihre Agentur verkauften sie in die USA, nach Frankreich, nach Nord- wie Südkorea, in die ganze Welt.
     Eva Koralnik tat das über viele Jahre auch aus biographischer Nähe zum Schicksal von Anne Frank. 1938 in Budapest als Tochter einer Schweizerin und eines Ungarn geboren, hatte sie die Verfolgung als untergetauchtes Kind 1944 dank der Hilfe des Schweizer Diplomaten Harald Feller überlebt und konnte mit ihrer Mutter und der im Sommer 1944 geborenen Schwester in die Schweiz gelangen.
     Mit der vollständigen Lesebuchausgabe sicherte der Anne Frank Fonds die Rechte am Tagebuch für Jahrzehnte. Durch diese "definitive Edition" will der Anne Frank Fonds der Zerstückelung und Auflösung des Tagebuchs entgegenwirken, deren Teile nicht mehr für das Ganze stehen. Das Tagebuch soll als ein integrales Werk fortbestehen.
     Wie wichtig dieses Anliegen ist, zeigte sich, als 2017 "Ultras", radikale Anhänger des Fußballclubs Lazio Rom, Fans der gegnerischen Mannschaft AS Rom verhöhnten, indem sie deren Plätze im Stadion mit dem Bild von Anne Frank beklebten, die deren Trikot trägt. Weitere Sticker trugen die Aufschrift "Romanista Ebreo" ("Roma-Fan Jude") oder "Romanista Frocio" ("Roma-Fan Schwuchtel"). Die Bilder gingen um die Welt und erschütterten die politisch Verantwortlichen in Italien. Der italienische Fußballverband ließ in der gleichen Spielwoche einen Passus aus dem Tagebuch vorlesen und eine Schweigeminute im römischen Stadion abhalten. Spieler trugen das Konterfei von Anne Frank auf ihrem Trikot.
     Bei einer Querdenker-Demonstration gegen Beschränkungen während der Coronapandemie verglich sich 2020 ein damals elfjähriges Mädchen in Karlsruhe mit Anne Frank. Der Staatsschutz ermittelte.
     Über die Jahre verlor das Tagebuch an Bindekraft - es entstand ein Phänomen "Anne Frank", eine Referenz ohne Bindung an das Werk. Das öffnet neue Perspektiven, wie es eine Gefahr birgt: den Verlust der Essenz ihres Werks. Das Tagebuch der Anne Frank können nicht mehr so leicht Staatsoberhäupter, auch nicht hohe Institutionen in ihre Obhut nehmen, wie dies früher der Fall war. Sie sind heute angefochten, haben an selbstverständlicher Geltung eingebüßt.

Anne-Frank-Bücher
 
Ein eigenes Genre von Büchern rund um Anne Frank ist über die Jahre entstanden: Bücher der Helfer wie das von Miep Gies, Meine Zeit mit Anne Frank, der Bericht jener Frau, die Anne Frank und die anderen mit Lebensmitteln versorgte. "Es scheint, dass Miep ihre 'Untertaucher' niemals vergisst. Miep schleppt sich für uns ab, sie ist ein richtiger Packesel!", heißt es im Tagebuch, deren Blätter Miep Gies schließlich barg. Es versteht sich von selbst, dass der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker für das 1987 erschienene Buch als "eindrucksvolles Dokument der Zeitgeschichte" warb.
     Es erschienen Bücher der Freundinnen, Jacqueline van Maarsen schrieb das Buch Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank, und 2023 erschien das Buch der im gleichen Jahr verstorbenen Freundin Hannah "Hanneli" Pick-Goslar, Meine Freundin Anne Frank. Hanneli Pick-Goslar starb als letzte Freundin von Anne Frank am 28. Oktober 2022 in Jerusalem. Beide Freundinnen standen über Jahre in enger Verbindung mit Otto Frank.
     Melissa Müller hat eine umfangreiche und gründliche Biographie über Anne Frank verfasst, Carol Ann Lee eine über Otto Frank und eine über Anne Frank. Das ist nur eine schmale Auswahl von Titeln, Erinnerungen, Interviewbänden, Dokumentationen über Anne Frank, Comics wie anderen Formen, die ganze Buchregale füllen.
     Das darf nicht den Blick darauf verstellen, wie präsent Anne Frank heute in Filmen und Netflixserien ist. Unter dem Titel Meine beste Freundin Anne Frank kam die Geschichte von Hanneli Pick-Goslar bei dem Streaming-Dienst heraus. Das Tagebuch der Anne Frank spiegelt sich in unendlich vielen Geschichten und medialen Formen.
     Ein Thema scheucht die Öffentlichkeit immer wieder auf, die Frage nämlich, wer Anne Frank und die anderen Untergetauchten verraten habe. Het Verraad van Anne Frank heißt das Buch der kanadischen Schriftstellerin Rosemary Sullivan, das 2022 in den Niederlanden erschien. Ein sogenanntes und selbsternanntes "Coldcase-Team" unter Leitung eines ehemaligen FBI-Angestellten hatte vermeintlich ermittelt, wer der Verräter sei, und dabei den jüdischen Notar Arnold van den Bergh ausgemacht. Eine Historikergruppe widersprach und machte methodische Mängel der Recherchen aus, die im Buch übernommen wurden. Der niederländische Verlag Ambo Anthos zog das kurz zuvor erschienene Buch zurück und entschuldigte sich.
     Der kriminalistische Eifer hatte die publizistische Sorgfalt ausgehebelt. Seit Jahrzehnten geht die Frage nach dem Verrat von Anne Frank um.
     Auch die Geschichte von Karl Josef Silberbauer (Ernst Schnabels "Silberthaler"), der die Untergetauchten am 4. August 1944 im Hinterhaus verhaftet hatte, fand ihre Fortsetzung. Simon Wiesenthal hatte ihn im Oktober 1963 nach aufwendigen Recherchen ausfindig gemacht. Der Polizist wurde vom Dienst suspendiert, ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Die Suspendierung wurde schließlich aufgehoben. In der Begründung heißt es: Es "konnte ihm nicht nachgewiesen werden, dass er während der NS-Zeit Kenntnis davon hatte, dass die Juden in den Konzentrationslagern im Osten systematisch vernichtet wurden. Karl Silberbauer war lediglich ein untergeordneter Polizeibeamter, dem sicherlich nicht eines der größten Geheimnisse der obersten deutschen Reichsführung anvertraut worden war."
     Der Polizist gab der österreichischen Presse Interviews am heimischen Küchentisch, die in großer Aufmachung erschienen. Das prominente Opfer holte den Täter ans Licht der Öffentlichkeit: Man hatte einen an den Hammelbeinen zu fassen gekriegt. Unrechtsbewusstsein ließ er nicht erkennen. Silberbauer war in seinen letzten Lebensjahren im Innendienst der Wiener Polizei mit dem Sortieren von Fingerabdrücken und Verbrecherfotos befasst. Für den Außendienst kam er nicht mehr in Frage.
 
Queerness

Die Initiativen rund um Anne Frank und ihr Tagebuch haben sich, wie wir sahen, der gesellschaftlichen Aufklärung verschrieben. Die tschechisch-britische Historikerin Anna Hájková hat 2019 in ihrer Hirschfeld-Lecture über Homophobie und Holocaust auf eine Thematik verwiesen, die in der öffentlichen Wahrnehmung von Anne Frank kaum zu Tage tritt: die Frage nach der Queerness, nach einer frühen Sehnsucht oder einem Anflug homosexuellen Verlangens von Anne Frank. Anna Hájková zitiert einen Passus aus dem Tagebuch vom 6. Januar 1944. Er findet sich in der Version a. Anne Frank hat ihn nicht mehr in die Version b übernommen.
     Anne schildert, wie sie als Mädchen "so neugierig" auf den Körper von Jacque - das ist Jacqueline van Maarsen - war, "den sie immer vor mir versteckt gehalten hatte und den ich nie gesehen habe. Ich fragte Jacque, ob wir als Beweis unserer Freundschaft uns gegenseitig die Brüste befühlen sollten. Jacque lehnte ab." Und Anne schildert, wie sie jedes Mal in Ekstase gerate, wenn sie eine nackte Frauengestalt sehe, und sie schließt: "Hätte ich nur eine Freundin!" Als Jacqueline van Maarsen in den 1990er Jahren von dieser Stelle im Tagebuch erfuhr, soll sie "schockiert" reagiert haben. So hat es später David Barnouw überliefert. Anne Frank jedenfalls hat diesen Passus nicht in ihre Fassung übertragen. Aus Scham oder doch Selbstzensur, zu der sie gerade nicht neigt? Oder weil sie ahnte, wie die Freundin reagieren würde? Wir wissen es nicht. Wir erfahren nur, dass Anne Franks Tagebuch auch etwas beiträgt zum heutigen Verständnis von Queerness. Anne Franks Offenheit, was ihren Körper betraf, ihre Neugier auf Sexualität sind oft bemerkt worden. Sie sind nicht ungewöhnlich für ein Mädchen ihres Alters. Ungewöhnlich ist allenfalls, wie sie sie darzustellen vermag.
     Im Gegenzug gibt es in Bibliotheken wie Schulen einzelner US-Staaten Bestrebungen, das Tagebuch auf den Index zu setzen, weil das Tagebuch der Anne Frank zu freizügig sei, um Maßstäben evangelikaler Sittlichkeit zu genügen. Das Tagebuch lebt auch in diesem Teil fort, und seine Verfasserin tut, worüber sie uns häufiger berichtet: Anne Frank lacht.

Epilog: Geschichtsbuch oder schöne Literatur?

Ist das Tagebuch der Anne Frank dokumentarische Literatur und in der Theaterfassung ein dokumentarisches Stück? Jedenfalls wurde es so gelesen, gesehen und aufgefasst. Das zeichnet das Verstehen vor und schließt ein Verständnis des Buches als Kunstwerk aus.
     Nicolas Berg hat das Tagebuch "einen Quellen-Klassiker seit den 50er Jahren" genannt; das Tagebuch wurde bald nach Erscheinen "zu dem Dokument des Holocaust". In seinem groß angelegten Buch über den Holocaust und die westdeutschen Historiker weist Berg darauf hin, wie problematisch dieses dokumentarische Prinzip ist. Dass jede Behauptung "durch Dokumente belegt" werde, wie ein Historiker in einer frühen Dokumentation über das Dritte Reich behauptet hatte, verkenne das entscheidende Problem: "Schwierigkeiten entstanden ja erst mit dem auf das Material projizierten Objektivitätsanspruch."
     Einem solchen Objektivitätsanspruch genügt auch das Tagebuch der Anne Frank nicht. Es beschreibt historische Umstände in literarischer Form. Es ist keine historische Quelle im landläufigen Sinn, sondern ein Entwicklungsroman, Familienchronik und Liebesgeschichte in einem. Die literarischen Elemente tragen alle eine historische Signatur das Bild der Kastanie hinter dem Haus in der Prinsengracht kann nur von einer Eingeschlossenen so gesehen werden, die die wechselnden Jahreszeiten aus der Dachluke betrachtet, und auch die Liebe zu Peter ist von diesem Schicksal bestimmt. Gleichzeitig benennt Anne Frank die zeitgeschichtlichen Umstände in einem Kaleidoskop literarischer Abschweifungen.
     Die entscheidenden Debatten über das Tagebuch der Anne Frank wurden nicht in Deutschland geführt, sondern in den USA, und zumeist von Jüdinnen und Juden, wie Hanno Loewy 1998 gezeigt hat. Vor allem Sander Gilman hat in seinem Buch über den jüdischen Selbsthass einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Tagebuchs in den USA geleistet: Durch die "Universalisierung " von Leid und Verfolgung im Theaterstück verschwand dessen historische Signatur.
     Und das Stück selbst verschwand bald darauf von den Spielplänen und wich anderen Theaterstücken: Rolf Hochhuths Stellvertreter von 1963 und Peter Weiss' Die Ermittlung von 1965.
     "Anne Frank the Writer. An unfinished Story" - so der Titel einer Ausstellung 2003 im Holocaust Memorial Museum, die an das erinnerte, als was man Anne Frank noch entdecken wird: als Schriftstellerin.