Efeu - Die Kulturrundschau

Gottgleiche Himmelskönigin

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29.04.2024. Der Musikwissenschaftler Esteban Buch fordert in Backstage Classical eine Aufarbeitung von Karajans Sympathien für Hitler - und eine neue Europa-Hymne. Der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars Henrik Gass schildert in der taz, wie das Filmfestival nach seinen Solidaritätsbekundungen mit Israel boykottiert wird. Die NZZ bekommt von Romeo Castellucci am Theater Basel gezeigt, wie man Mozarts Requiem aufführt - als "Feier des Lebens". Die FAZ sieht in einer Ausstellung in Venedig himmlische Brüste.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2024 finden Sie hier

Musik

In der Europahymne steckt zu viel Karajan, sagt der französische Musikwissenschaftler Esteban Buch in Backstage Classical - Karajan hatte Beethovens "Ode an die Freude" zu Hymnenzwecken ein bisschen umarrangiert. Buch fordert daher eine neue Version: Karajans "Verbindungen zum NS-Regime werden bei jedem erneuten Spielen der Hymne  aufs Neue unter den Tisch gekehrt. Damit wird jede Aufführung der Karajan-Europahymne zur Fortsetzung des mangelhaften Umgangs mit dem Nazi-Erbe. ... Karajan war kein Mitläufer, der notgedrungen in die Partei eingetreten ist, sondern er hatte schon früh Sympathien für Hitlers Politik. Weil wir das heute wissen, ist es gerade für die europäische Identität wichtig, dass wir uns auch damit auseinandersetzen."

Auf "Fearless Movement", dem neuen Album von Kamasi Washington, dem "wohl heute aufregendste Saxofonisten seiner Generation", erlebt FAZ-Kritiker Peter Kemper "Jazz als vertrauensbildende Maßnahme, der nicht länger verschrecken, sondern inkludieren soll. Washington möchte seine Stücke nicht chaotisch klingen lassen, will vielmehr zeigen, wie man unterschiedliche Elemente - vom Hard Bop über die Fire Music der Sechziger, eleganten Soul, weichen Funk bis zu den Rap-Ekstasen der Gegenwart - so verbinden kann, dass eine untergründige Harmonie spürbar wird. ... Sein Saxophonton ist sämig und bewahrt bei aller Angriffslust in seinem Innern doch einen tröstlichen Schmelz." Meist "köchelt Washingtons Tenorsaxophon zunächst auf kleiner Flamme, bevor es sich mehr und mehr erhitzt, um alsbald in hymnischem Kreischen zu explodieren."



Weitere Artikel: Clemens Haustein spricht für die FAZ mit Gidon Kremer über dessen mit dem Orchester Kremerata Baltica einspielten Album "Songs of Fate" mit Liedern aus Polen und Litauen. In der SZ spricht Alexander Menden mit Antonio Pappano, der von Simon Rattle die Leitung der Londoner Symphoniker übernimmt. Karl Fluch fragt sich im Standard, wie hoch der Einflus von Mega-Stars wie Beyoncé oder Taylor Swift auf die US-Wahlen wirklich ist. Für die Presse arbeitet sich Wilhelm Sinkovicz durch Bruckners Sinfonien. Für den Tagesanzeiger plaudert Torsten Gross mit Eddie Vedder von Pearl Jam. In der FAZ gratuliert Gerald Felber dem Dirigenten Maasaki Suzuki zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert der Pianisten Lucas und Arthur Jussen  in Zürich (NZZ) und das neue Album der US-Musikerin St. Vincent (Standard), die Jakob Biazza in der SZ porträtiert.

Archiv: Musik

Film

Regine Müller spricht für die taz mit Lars Henrik Gass, den Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, über die Anfeindungen, die über ihn und sein Festival ergehen, seit er sich auf Facebook nach den Massakern, Vergewaltigungen und Geiselentführungen der Hamas in den Augen des juste milieu zu israelsolidarisch gezeigt hatte. Die Folgen für das renommierte Festival: zahlreiche Absagen, Rücktrittforderungen und Boykottaufrufe. Er beobachtet mit einem Begriff der Soziologin Alexandra Schauer eine "rituelle Vergemeinschaftung", bei der es darum gehe, "die Reihen zu schließen", und "einen kulturellen Code, der inzwischen Mainstream ist: etwas gegen Israel zu haben. Ohne dass man diesen Code reproduziert, indem man die Hand hebt oder unterschreibt, kann man in weiten Teilen des Kulturbetriebs heute gar nicht mehr bestehen. ... Ich halte es für ein Problem, dass in diesem Prozess die Objekte aus dem Blick geraten, die Kunst selbst. Für Ästhetik gibt es keine Begriffe mehr, weil die Ästhetik nun das Vehikel ist, um politisches Engagement zu transportieren. Volksgemeinschaft ist ein Schreckensszenario, das Gegenteil davon, was Kunst und Kultur einmal auszeichnete. Nämlich, dass dort gesellschaftliche Widersprüche durch vertiefte Wahrnehmung und genaueres Denken sichtbar werden können." Für Dlf Kultur sprach Patrick Wellinski mit Gass.

Weitere Artikel: Im Filmdienst schreibt Josef Schnelle einen Nachruf auf Michael Verhoeven (weitere Nachrufe bereits hier). Dessen Sohn, der Filmemacher Simon Verhoeven, spricht auf Zeit Online über seinen Vater. In der NZZ gratuliert Andreas Scheiner Jerry Seinfeld zum Siebzigsten. Paul M. Horntrich erinnert im Standard an den Skandal, den Ingmar Bergmans "Das Schweigen" bei seiner Premiere vor sechzig Jahren auslöste.

Besprochen werden Stephane Brizés "Zwischen uns das Leben" (taz) und der NDR-Dreiteiler "Die Mutigen 56 - Deutschlands längster Streik" über den Metaller-Streik im Oktober 1956, der als längster Streik in der Geschichte der Bundesrepublik gilt und dem wir die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verdanken (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus Romeo Castelluccis Inszenierung von Mozarts Requiem am Theater Basel. Foto: Ingo Höhn.

Wie inszeniert man eine Totenmesse? NZZ-Kritiker Christian Wildhagen ist gespannt auf Romeo Castelluccis Aufführung von Mozarts Requiem am Theater Basel. Und ist verblüfft, dass er hier entgegen aller Erwartungen ein "Fest des Lebens" zu sehen bekommt: "Ein Bild bleibt besonders haften: Ein junges "Mädchen wird in einem vieldeutigen Initiationsritual mit Farben, Honig, Asche und Federn überschüttet - man könnte auch sagen: fürs Leben imprägniert. Die Farben und die Asche wiederum verwandeln sich in Kunst, tauchen nachfolgend als beredte Symbole in wechselnden Kontexten wieder auf, etwa als Teil eines Action-Paintings auf der weißen Bühnenrückwand. Auch sonst wird das Geschehen immer bunter, so bunt wie das Leben selbst gewissermassen - hier tanzt man Bäumchen-wechsel-dich unterm Maibaum, dort gruppiert man sich um einen nackten Jüngling, vielleicht den heiligen Sebastian, zum Tableau vivant."

Szene aus Falk Richters Inszenierung von "Asche" an den Münchner Kammerspielen. Foto: Kammerspiele München.

Eine Totenklage der anderen Art bekommt Christine Dössel bei Falk Richters Uraufführung von Elfriede Jelineks Text "Asche" an den Münchner Kammerspielen zu hören und vor allem zu sehen. Jelinek verarbeitet in ihrem Text die Trauer um ihren verstorbenen Mann - ein persönlicher Untergang, so verheerend, dass sie das Ende der Welt gleich mitgedacht hat, weiß Dössel. Und Richter fährt für dieses apokalyptische Trauer-Szenario alle visuellen Geschütze auf, so Dössel: "Auf der Endzeit-Bühne von Katrin Hoffmann befindet sich ein Fels aus vulkanischem Gestein mit einer Satellitenschüssel drauf, deren Antenne manchmal glüht und funkt. Dahinter ein Rundhorizont mit Torbögen. Er dient als Leinwand für das visuelle Projektionsfeuerwerk, das der Videokünstler Lion Bischof zündet: Bilder von aztekischen und ägyptischen Tempeln, von Berglandschaften, Säulen und Ruinen, von Heuschrecken- und Plastikflaschenplagen. ... Zwischendurch scheinen diese Bilder schier zu explodieren. Es ist eine Video-Apokalypse. Ein Inferno aus Feuer, Erde, Wasser, Luft, den vier Elementen, denen Jelinek in ihrem Text wie einer Spur hin zu einem Ursprung folgt." Im Standard hebt Margarete Affenzeller vor allem die Leistung der Schauspieler hervor.

Weitere Artikel: Katja Kollmann beschäftigt sich in der taz mit dem britischen Regisseur Alexander Zeldin, dem das Berliner Theater Festival FIND dieses Jahr einen Schwerpunkt widmete.

Besprochen wird Oliver Frljićs Inszenierung von George Orwells Roman "Farm der Tiere" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik), Bastian Krafts Inszenierung von Bernards Shaws Drama "Pygmalion" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Enrico Lübbes Inszenierung von Georg Büchners "Woyzeck" am Schauspiel Leipzig (nachtkritik, FAZ), Miriam Ibrahims Adaption von Sharon Dodua Otoos Roman "Adas Raum" am Theater Dortmund (nachtkritik), David Hermanns Inszenierung der Dostojewski-Oper "Der Doppelgänger" von Lucia Ronchetti und Katja Petrowskaja bei den Schwetzinger Festspielen (FAZ, FR), Kirill Serebrennikovs Inszenierung der Mozart-Oper "Le nozze di Figaro" an der Komischen Oper Berlin (SZ, tsp, taz, nmz), Olivia Hyunsin Kims Stück "Baby I'm sick tonight" in den Sophiensälen Berlin (taz) und Milo Raus Inszenierung von "Antigone im Amazonas" am Zürcher Schauspielhaus (NZZ).
Archiv: Bühne

Literatur

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Volker Weidermann fragt sich auf Zeit Online, wie es eigentlich kommt, dass die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im englischsprachigen Ausland nicht nur ein Quasi-Abo auf Nominierungen für den International Booker Prize hat und als aussichtsreiche Kandidatin für einen Nobelpreis gilt (unser Resümee), während sie in Deutschland nur eine von vielen gut besprochenen Autorinnen ist. Ihr "Werk ist vielleicht ganz besonders tief in der ostdeutschen Welt verwurzelt, drei Generationen tief sozusagen. ... Ihre Eltern waren keine Dissidenten, gehörten zur geistigen Elite der DDR, die Großeltern hatten die Nazizeit im Moskauer Exil überlebt." Erpenbeck "lebt geradezu in dieser Tradition" und "dieses scheinbar bruchlose Anschließen an eine Tradition, die in der Großelterngeneration eine kommunistische war, führt in der Rezeption hierzulande zu Misstrauen. ... Erpenbeck erzählt von einer Rezension zu 'Kairos', in der ihr eine undifferenzierte Glorifizierung der Exilzeit deutscher Kommunisten unter Stalin vorgeworfen wird. Obwohl im Roman im folgenden Kapitel all die Abgründe, der Terror, die Morde, die Angst eindrucksvoll beschrieben werden. Es gibt, so darf man Jenny Erpenbeck verstehen, bis heute ein bewusstes Missverstehen ihrer Bücher in Deutschland."

Weitere Artikel: Magnus Klaue erinnert in der Jungle World an den deutschen Blick auf den jüdischen Humor von Ephraim Kishon, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre. In der Kafka-Reihe der SZ erzählt Alexander Kluge lose von seinen KI-Versuchen, Szenen aus Kafkas Notizen zu einem nie geschriebenen Roman über Napoleons Rückmarsch zu illustrieren. In der Berliner Zeitung spricht der aus dem Iran stammende Poetry Slammer Aidin Halimi über seine beschwerliche Integration in Deutschland.

Besprochen werden unter anderem Melanie Möllers "Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur" (NZZ), Marie Jahodas Memoiren "Rekonstruktionen meiner Leben" (Standard) und Stephan Roiss' "Lauter" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Röhnert über Elsa Asenijeffs "Heilige Kräfte":

"Die Stellen, die uns heilig sind
An unseres Leibes duftenden Gewalten,
Sind zwei, die schön in ihrer Falten ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Hans Feurer: Painted by Kodak I (Gitta Saxx), Seychelles, 1988. Foto: Palazzo Franchetti.

Fast in jeder Kirche in Venedig lässt sich das Bild einer stillenden Madonna finden, stellt FAZ-Kritiker Stefan Trinks fest. Weil es in der Renaissance kaum nackte, weibliche Modelle in den Ateliers gab, wirken die Darstellungen der Frauenkörper häufig etwas unbeholfen, so Trinks. Das wurde später natürlich anders, wie er in der Ausstellung "Breasts" im Palazzo Franchetti beobachten kann, die die Geschichte des "Brust-Bildes" in der Kunst auffächert. Eine moderne "gottgleiche Himmelskönigin" bewundert Trinks beispielsweise in Christopher Bucklows Fotogramm "Tetrarch (C.S.)": "Claudia Schiffer vor nachtschwarzem Hintergrund, deren auratisch glimmende Silhouette in der bearbeiteten Fotografie mit unzähligen pointillistisch gesetzten Lichtpunkten angefüllt ist - bei aller Verehrung ein ungemein subtiles Werk. Ausgehend von der Idee der alten Kulturen, von den Assyrern bis zu den Griechen, Sternenkonstellationen menschliche Form zu verleihen, intarsiert Bucklow der für ihn himmlischen Schiffer durch überlagernde Belichtung den Schattenriss mit insgesamt 25.000 Sternenpunkten auf lichtempfindlichem Fotopapier."

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet mit dpa, dass Papst Franziskus (als erster Papst in der Geschichte) die Biennale in Venedig besucht hat. Besprochen werden die Ausstellung "Modigliani. Moderne Blicke" im Museum Barberini in Potsdam (FR) und die Ausstellungreihe "The Dark Rooms", die an unterschiedlichen Orten in Berlin stattfindet (tsp).
Archiv: Kunst