9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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1909 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 191

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2024 - Ideen

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Die jüdisch deutsche Autorin Dana Vowinckel, die teilweise auf dem Campus der Uni Chicago aufgewachsen ist, sucht im Interview mit Marlene Knobloch von der SZ Wege aus dem Getümmel. Sie ist durchaus bereit, den an den Unis protestierenden Studenten Friedenswillen zu unterstellen - nur hält sie das nicht davon ab den Antisemitismus der meisten Proteste zu übersehen. "Alle haben das Gefühl: Die anderen sind mächtiger. Das ist der Kern des Problems. Es ist eine Frage der Macht. Alle haben das Gefühl die anderen haben mehr Macht. Ich habe das Gefühl: Die Leute bei diesen Protesten haben eine Macht über mich, davor habe ich Angst. Viele Menschen bei diesen Protesten sehen sich als rassistisch unterdrückt an - und sind es zum Teil auch. Alle glauben, sie stehen auf der richtigen Seite der Geschichte."

Der 7. Oktober war nicht nur ein abscheulicher Mordkarneval. Er trug auch symbolträchtige, programmatische Züge, die der Historiker Gad Arnsberg in der virtuellen FAZ-Printbeilage "Bilder und Zeiten" thematisiert: "Hier wurden jüdische Zivilisten (und auch Nichtjuden) erstmals Opfer eines Pogroms im eigenen Land, und der Staat setzte aus. Zugleich sollten eingesessene Ortschaften, die die Angreifer als 'Siedlungen' gleich denen in der Westbank betrachten, leer gefegt und unbewohnbar gemacht werden. Von der Zerstörung der Orte sollte eine Signalwirkung ausgehen, die in nuce ankündigt, was der jüdischen Ansiedlung in ganz Israel droht, nämlich die komplette Ausradierung und Aufhebung des zionistischen Aufbauwerks."

Außerdem: Ebenfalls in "Bilder und Zeiten" liest Marc Zitzmann einige französische Neuerscheinungen zum Völkermord in Ruanda vor dreißig Jahren. In der Welt versucht Jan Küveler dem Begriff des "Globalen Südens" auf die Spur zu kommen, dem einzigen Süden, dessen Gegenpol der Westen ist.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Ideen

Einst feierte der Postkolonialismus die Möglichkeiten einer Globalisierung und die Auflösung von Identitäten, mit der indisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak setzte sich dann spätestens ab den Zehnerjahren aber das Konzept des Indigenen an die Stelle des Nomadischen, erinnert Jens Balzer in der Zeit: "Damit etablierte sich ein Verständnis von 'kultureller Identität', das diese nicht mehr als werdende, der Zukunft zugewandte versteht, sondern sie vielmehr an die Vergangenheit bindet, an Herkunft, Tradition, Territorien, früher hätte man gesagt: an das Völkische, an die Scholle. Und dies in der gleichen Zeit, in der auch autoritäre und rechtspopulistische Politiker wieder erfolgreich das 'Eigene' gegen das 'Fremde' in Stellung brachten, gegen 'Kosmopoliten' und 'Globalisten'."

Außerdem: Der Philosoph Peter Strasser fordert in der NZZ, dass der Westen vor dem Bösen, wie es sich etwa in Autokratien manifestiert, nicht zurückweicht.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Ideen

Wie ist es zu erklären, "dass der leidenschaftlichste Ausbruch studentischen Aktivismus seit den 1960er Jahren der Delegitimierung der Geschichte des jüdischen Volkes gilt, das über die Vernichtung triumphiert hat", fragt der Autor Yossi Klein Halevi in einem sehr lesenswerten Essay auf den Seiten der Times of Israel. Das Wesen des heutigen Antisemitismus liegt für ihn in der "Leichtigkeit, mit der antizionistische Aktivisten es geschafft haben, den jüdischen Staat als genozidal und einen Nachfolger Nazideutschlands darzustellen und in der sich ein Versagen der Erziehung nach dem Holocaust" manifestiert, denn die Generation, die da demonstriert sei bestens über den Holocaust unterrichtet. Was hier angegriffen werde, sei "Integrität der jüdischen Geschichte der Nachkriegszeit, eines Volkes, das das Selbstmitleid der Opferrolle ablehnt und sich seinen unwahrscheinlichsten Traum erfüllt: sich in seiner Gebrochenheit in dem Land seiner Jugend zu erneuern. Der Übergang vom tiefsten Punkt, den die Juden je erlebt haben, zur Wiedererlangung von Macht und Selbstvertrauen ist eine der erstaunlichsten Überlebensleistungen nicht nur in der jüdischen, sondern in der Weltgeschichte. Es ist diese Geschichte, die auf liberalen Universitäten verzerrt, trivialisiert und dämonisiert wird."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2024 - Ideen

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Der Streit um das neue Hedwig Richter-Buch nimmt kein Ende (unsere Resümees). Richter antwortet heute in der FAZ recht deutlich auf die Attacke des FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube und erklärt nochmal, warum sie das von ihr und Bernd Ulrich gepriesene Regieren mit Dekreten, in die die Bürgerschaft freudig einstimmt, für die richtige Revolution hält: "Zur Revolution gehört ein Ende des Normalismus, der radikal und zerstörerisch geworden ist: Der aktuelle Fleischkonsum, das Autofahren, die Fliegerei, die Klamotten, unser ganzer Alltag ist durchtränkt mit Zerstörung, die Politiker nicht noch befeuern sollten (Fliegt, dass es kracht! Schaut euch meine Wurst an!). Sich aus der alltäglichen Zerstörung zu befreien, das ist für die westlichen Länder - für Politik, Bürger, Wirtschaft, sogar für das Feuilleton - das große Emanzipationsprojekt des 21. Jahrhunderts."

Jürgen Kaube kann es nicht lassen und kommt nochmal auf Hedwig Richters Kreuzfahrt 2019 zurück, über die sie damals beschwingt tweetete (Tweets, die sie nicht gelöscht hat, wie man ihr zugute halten muss) und die sie heute ebenfalls per Tweet bedauert:


Kaube versteht nicht, warum Richter seinen Hinweis auf diese Sünde als "ad hominem"-Attacke kritisiert. Er verstehe das nicht als hämisch, "denn es beruht auf einer Rechnung. Je nach Schätzung verursacht eine Kreuzfahrt auf Richters Strecke einen Ausstoß zwischen einer und 1,9 Tonnen Kohlendioxid pro Passagier. Hinzu kommen die Flüge, um ins Südchinesische Meer und wieder zurückzugelangen. Sie bringen es auf etwa 2,3 Tonnen CO2-Emission pro Kopf. Der durchschnittliche Konsum von Fleisch, gewichtet nach den Tierarten, kommt in Deutschland inzwischen auf eine jährliche Emission von knapp 300 Kilogramm CO2. Für jene Kreuzfahrt hätte sie also etwa zehn Jahre lang Fleisch essen können."

Schöne Allgemeinheiten, die in diesem Falle Hedwig Richter trösten könnten, sagt wie stets Carolin Emcke in ihrer SZ-Kolumne: "Die hasserfüllten Anfeindungen und mutwilligen Denunziationen, mit denen seit Jahren alle überzogen werden, die sich für eine humanistische, nachhaltige Lebensform einsetzen, zeigen Wirkung. Die sich stetig radikalisierende Verrohung, die sich gegen 'die Eliten', 'die Feministinnen', 'die Klima-Kleber', gegen 'Öko-Diktatur' richtet, die um sich greifende Gewalt eines sich selbst ermächtigenden Mobs - sie verbreiten Angst und Schrecken."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 - Ideen

In was für einer Zeit leben wir? Der Ära eines neuen Kalten Krieges (Robin Niblett)? Am Rande eines Dritten Weltkrieges (Niall Ferguson)? Im Zeitalter der Revolutionen (Fareed Zakaria)? Des Unfriedens (Mark Leonard)? Der AI (Henry Kissinger)? Des starken Mannes (Gideon Rachman)? Der Gefahr (Bruno Maçães)? An allem könnte etwas dran sein, meint Timothy Garton Ash im Guardian. Aber natürlich wiederholt sich Geschichte nie 1:1 und der menschliche Faktor spielt nach wie vor eine bedeutende Rolle, so Ash mit einer Verbeugung Richtung Selenski. "Die von mir festgestellte Interpretationskakophonie ist selbst symptomatisch für die Tatsache, dass wir uns in einer neuen Periode der europäischen und globalen Geschichte befinden, in der alle nach neuen Orientierungen suchen. Auf die Nachkriegszeit (nach 1945) folgte die Zeit nach dem Mauerfall, die jedoch nur vom 9. November 1989 (Fall der Berliner Mauer) bis zum 24. Februar 2022 (Einmarsch Russlands in die Ukraine) andauerte. In der Geschichte wie in der Romantik sind die Anfänge wichtig. Was in den fünf Jahren nach 1945 geschah, prägte die internationale Ordnung für die nächsten 40 Jahre - und in mancher Hinsicht, wie der Struktur der UNO, bis heute. Was wir also jetzt tun, indem wir zum Beispiel der Ukraine den Sieg ermöglichen oder sie verlieren lassen, wird den Charakter der neuen Ära entscheidend prägen. Die wichtigste Lektion der Geschichte ist, dass es an uns liegt, sie zu gestalten."
Stichwörter: Ash, Timothy Garton

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2024 - Ideen

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Warum liest man? Um Grenzen zu überschreiten, meint die Literaturwissenschaftlerin Melanie Möller, die sich in ihrem Buch "Der entmündigte Leser" gegen Praktiken wie Sensivity-Reading oder Trigger-Warnungen wendet, im Zeit-Gespräch mit Alexander Cammann: "Es wird heute so viel von Vielfalt gesprochen - rückwirkende Normierung aber bedroht Vielfalt in der Literatur existenziell. Ich wollte all das zeigen aus der schöpferischen Hölle, was durch Triggerwarnungen und als Modernisierung getarnte Umschreibungen verloren gehen könnte: das Obszöne, Drastische zum Beispiel und, ja, auch das Verletzende, das eben auch zur Kunst gehört." An die gesellschaftliche Wirksamkeit des Umschreibens glaubt sie "ganz und gar nicht": "Erst recht nicht, wenn ich mich da draußen so umschaue: Nur weil ein paar Politiker und Akademiker jetzt verstärkt auf Sprache achten, soll die Welt besser werden? Umgekehrt glaube ich, dass das Böse, das Ungerechte, das Verletzende einen Platz haben muss, weil es sich sonst irgendwo sammelt und explodiert. Denn das Terroristische im Menschen wird sich nicht unterdrücken lassen - zum Glück haben wir dafür die Räume der Fantasie, die Kunst, die Literatur."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 - Ideen

Im Interview mit Zeit online ärgert sich die Schriftstellerin Mithu Sanyal über die "Sündenbock-Funktion", die ihrer Ansicht nach dem Postkolonialismus seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober zugeschoben wird. Sie bittet um Differenzierung, etwa wenn Interviewer Ijoma Mangold einwirft, Butler habe die Hamas als Befreiungsbewegung bezeichnet: "In den Debatten um Judith Butler reagieren wir auf Schlüsselworte. Wenn wir Befreiungsbewegung oder Widerstand hören, denken wir, das ist gut, also ist alles, was ich im Namen des Widerstands tue, gut. Nein! Es gibt bewaffneten Widerstand, den ich eindeutig als Terrorismus bezeichnen würde. Hier bin ich übrigens anderer Meinung als Butler, für die der 7. Oktober bewaffneter Widerstand war und nicht Terror. Deshalb habe ich lange darüber nachgedacht, warum ihr diese Unterscheidung so wichtig ist. Weil es ihr um die Intention geht. Paraphrasiert: 'Entweder es gibt eine politische Motivation - dann wäre es Widerstand. Oder es ging am 7. Oktober darum, so viele Juden wie möglich zu töten, weil die Hamas halt so antisemitisch ist - dann wäre es Terrorismus.' Ganz wichtig: Auch mit einer politischen Motivation ist der Anschlag noch immer ein massives Verbrechen! Aber nur wenn es eine politische Motivation gibt, kann es auch eine politische Lösung geben."

Wir tragen die taz-Kolumne von Tania Martini vom Freitag nach - auch weil sie auf einen Artikel hinweist, den wir ebenfalls übersehen hatten. Fassungslos las sie einen Text der deutschen Autorin Eva Ladipo, Großnichte eines Hitler-Generals, die sich im Guardian Sorgen um das Ansehen Deutschlands in der Welt macht: "Ist es die Sorge darüber, dass es ein von Judenhass geprägtes Klima an den Universitäten gibt? Oder darüber, dass die Zahl antisemitischer Straftaten gestiegen ist? Nein, die Verbrechen des Onkel Walter 'fühlen sich gerade jetzt unangenehm relevant an', weil Deutschland ungewollt Fehler wiederhole, 'die schon einmal gemacht wurden', gerade weil es 'an der Seite Israels' stehe. Israelis als die Nazis von heute? Und Nazis erkennen Nazis am besten? 'Die Vergangenheit meiner Familie und Deutschlands lastet schwer auf mir. Und deshalb liegt mir Gaza so am Herzen', so der Titel des Textes, der symptomatisch ist für einen bestimmten pseudoantirassistischen Paternalismus voller Verdrehungen und Blindheiten."

In der FAZ beschreibt Franziska Sittig die Stimmung an amerikanischen Universitäten, die sie als hausgemacht empfindet: "So geschockt ich anfangs auch war, dass Hamas, Hizbullah, PFLP und Islamic Jihad von vielen Studenten als Befreiungs- statt als Terrororganisationen, die sie sind, angesehen werden, umso besser kann ich mittlerweile nachvollziehen, woher diese Ansichten rühren. Ich kann mit Kufija und oft noch Covid-Maske verhüllte Studenten nicht isoliert für ihren Israelhass und in wachsendem Maß auch Hass auf die Vereinigten Staaten verantwortlich machen, wenn signifikante Bestandteile des Kerncurriculums - des interdisziplinären Standard-Literaturkanons der Universitäten - lehren, das gesamte westliche System sei 'oppressive' und jeder, der Teil dieses System ist, mache sich mitschuldig, weshalb ein direkter Angriff auf das System der einzige Ausweg sei." Sittig beschreibt auch einen wesentlichen Unterschied zu den Studentenprotesten '68: "Damals zielte die Besetzung von Universitätsgebäuden und der Druck auf die Universitätsverwaltung nicht darauf ab, für eine Minderheit oder einen gemeinsamen gerechten 'cause' auf Kosten einer anderen Minderheit einzustehen. Heute dagegen werden jüdische und israelische Studenten kollektiv für das Vorgehen Israels im Gazastreifen haftbar gemacht." Ähnlich sieht es Josef Joffe in der NZZ.

Im Interview mit CNN wehrt sich der jüdische Yale-Student Ben Weiss gegen den Vorwurf, die Proteste an amerikanischen Universitäten seien antisemitisch grundiert. "Als Student im vierten Jahr in Yale empfinde ich diese Charakterisierung als zutiefst frustrierend, da sie nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Auf Schritt und Tritt bin ich auf eine Gemeinschaft von Aktivisten und Organisatoren gestoßen, die gerne zuhört, bereit ist zu lernen und sich für die Einbeziehung jüdischer Stimmen und Perspektiven einsetzt. Als Teil der schwierigen Arbeit, ein pluralistisches Protestumfeld zu schaffen, hat die Koalition beispielsweise jüdische Stimmen bei der kollektiven Entscheidungsfindung über die zu verwendende Sprache angehört und sich schließlich darauf geeinigt, keine Sprechchöre wie 'Es gibt nur eine Lösung: Intifada-Revolution' zu verwenden, die bei einigen jüdischen Studenten ein Gefühl der Unsicherheit hervorrief. Obwohl diese Gesänge auf dem Yale-Campus zu hören waren, wurden sie von den Organisatoren der Proteste im Rahmen des laufenden Dialogs weder genehmigt noch angestimmt."

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Der amerikanische Ethnologe Steven Vertovec hat gerade ein Buch über "Migration und soziale Komplexität" veröffentlicht. Im Zeit-Online-Gespräch erklärt er, weshalb er statt von "Mulitkulturalismus" von "Superdiversität" sprechen will: "Soziale Kategorien wie Ethnie oder kulturelle Zugehörigkeit sind meiner Meinung unzureichend, um die Diversität unserer heutigen Gesellschaften begreifbar zu machen. (…) In vielen unserer Debatten herrscht die Vorstellung vor, dass die Welt in Gruppen unterteilt ist. Gruppismus sozusagen. Das ist die mentale Schablone, die wir über die Welt legen, aber Gruppen sind keine hermetisch verschlossenen, abgegrenzten Einheiten. Kategorien sind porös, sie sind nicht fixiert. Identitäten sind immer mehrdimensional. (…) Immer mehr Menschen gehören mehreren Strömungen gleichzeitig an, was an der wachsenden Verbreitung des Zusatzes trans- erkennbar ist: Transnationalität, Transgender, Transsexualität, in der Soziallinguistik gibt es auch die Transsprache. Vieles ist heute durchlässig und im Fluss."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2024 - Ideen

Buch in der Debatte

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In ihrem Buch "Demokratie und Revolution", das sie zusammen mit dem Zeit-Redakteur Bernd Ulrich verfasst hat, fordert die Historikerin Hedwig Richter eine Revolution von oben, der sich die Bürger freudig unterwerfen sollen - Steaks kämen dann nicht mehr auf den Teller. Sie träume von einer "Volksgemeinschaft" hatte ihr daraufhin Jürgen Kaube vorgeworfen (unsere Resümees). Philipp Krohn empfiehlt in einem neuen Beitrag mehr Pragmatismus - von Dänemark sollen wir lernen: "In der Erdölkrise nach 1973 wurde das Ziel, vom Erdöl unabhängig zu werden, zum Narrativ. Schon sechs Jahre später beschloss Dänemark ein Wärmeversorgungsgesetz, das Kommunen zu einer Wärmeplanung verpflichtete. Viereinhalb Jahrzehnte vor Deutschland. Noch mehr: Der Energieversorger Dansk Naturgas wandelte sich von einem Fossilkonzern zu Ørsted, dem weltgrößten Offshore-Windparkbetreiber. Kopenhagen wurde zur Weltfahrradhauptstadt."

Im Zeit Online-Interview mit Simone Gaul fordert die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, dass Politiker mehr ihre Emotionen zeigen, die angeblich wichtiger seien als rationales Nachdenken. "Es geht nicht darum, dass ich in jedem Moment mitteile, dass ich hungrig bin, unglücklich verliebt oder morgen in den Urlaub fahre. Sondern es geht um die versteckten emotionalen Grundlagen unserer Entscheidungen. Darum, da genauer hinzuschauen. Warum habe ich eine gewisse Überzeugung? Warum will ich ein Tempolimit oder ein Frauenwahlrecht? Ich kann nur faktenbasiert darüber reden, wenn ich mir vorher klarmache, ich habe diese und jene Überzeugung und dieses oder jenes Gefühl zu einem Thema. Sich das klarzumachen, zeugt von emotionaler Reife. Der zweite Schritt ist die kommunikative Reife, also über diese Einstellungen und Gefühle auch zu sprechen."
Stichwörter: Richter, Hedwig

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Ideen

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Buch in der Debatte

 Philipp Daum und Marilena Piesker unterhalten sich für Zeit online mit Ingrid Robeyns, Professorin für Ethik der Institutionen an der Universität Utrecht, über ein "Luxusproblem", nämlich über die Frage, wann Reichtum unmoralisch wird. Sie setzt sich für einen Limitarismus ein, also eine Obergrenze für Reichtum: "So wie wir nicht wollen, dass jemand unterhalb der Armutsgrenze lebt, fordert der Limitarismus, dass niemand mehr als einen bestimmten Betrag besitzen sollte." Die Grenze zwischen erlaubtem Reichtum und unerlaubtem extremem Reichtum zieht sie für Westeuropäer bei einer Million Euro (als ethische Obergrenze) bzw. zehn Millionen Euro (als politische Obergrenze). Letztere ist für sie eine "Wohlstandsobergrenze, die unser politisches System, unsere Demokratie, anstreben sollte. Ab einer bestimmten Menge wird Geld nur noch schädlich. Es schadet der Gesellschaft. Zum Beispiel durch politische Einflussnahme. Mit Geld kann man Lobbyisten bezahlen, politische Kandidatinnen unterstützen oder Medien kaufen.(...) Reichtum schadet auch Superreichen selbst. Manche werden sogar süchtig nach Reichtum."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Ideen

Warum ist der Rechtsnationalismus gerade weltweit so erfolgreich, fragt sich in der Zeit Maximilian Probst. Seine Antwort ist recht ungemütlich: "Es ist schlicht und einfach die Tatsache, dass autoritäre Systeme heute mit den liberal-demokratischen ernsthaft konkurrieren können. Und manchmal sogar überlegen wirken, oder schlimmer noch: gelegentlich sogar überlegen sind. Das ist ein gruseliger Satz, gerade in Deutschland, wo die Geschichte davon zu künden scheint, welche Gefahren drohen, wenn man der autoritären Verlockung folgt. Doch könnte es eben auch eine Gefahr sein, ihre Leistungsfähigkeit zu verkennen." Heute könne es jedoch sein, "dass man einem Land wie China sogar ein Stück weit dankbar sein muss, dass es nicht den Weg in die liberale Demokratie gewählt hat. Das beste Beispiel für diesen provozierenden Gedanken betrifft die Klimakrise. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das 2-Grad-Ziel (von 1,5 Grad muss man nicht mehr reden) nur deshalb überhaupt noch erreicht werden kann, weil China in den letzten Jahren in rasantem Tempo die Solarindustrie entwickelt und ausgebaut hat."

Der Philosoph Philipp Hübl konstatiert im Welt-Interview mit Anna Schneider einen hohen Grad an Selbstdarstellung in moralischen Debatten, der besonders in der westlichen Welt verbreitet sei und den Debattenraum einschränke: "Das kann man Moralspektakel nennen. Man könnte auch Effekthascherei sagen. Mit Forderungen oder Aussagen, die offensichtlich extrem utopistisch, übertrieben, auch manchmal grundlos sind, möchte man zeigen, dass man zu einer bestimmten moralischen Gruppe gehört. Und das kann jede moralische Gruppe sein, von konservativ bis progressiv. Diese Verlockung ist neu in unserer heutigen Zeit."