9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

2812 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 282

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2024 - Europa

Dänemark.


Niederlande.


Eine griechische Schlagersängerin beim European Song Contest, während ihre israelische Kollegin Eden Golan von der Presse befragt wird:


Frankfurt. Patrick Bahners, Redakteur einer renommierten Zeitung, erklärt die Parole "From the River to the Sea".


Große Empörung herrscht auf Twitter über eine Seite der Bild-Zeitung, die einige der tausend Professoren des Berliner Dozentenaufrufs (unser Resümee) namhaft macht.


Bei einem Vortrag von Professor Alfred  Bodenheimer zum Thema Antisemitismus an der Uni Hamburg kam es zu einem gewalttätigen Vorfall, berichtet Michael Thaidigsmann in der Jüdischen Allgemeinen: "Einem Vorstandsmitglied des Hamburger Landesverbands der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) wurde nach einer verbalen Auseinandersetzung ins Gesicht geschlagen. Die 56-jährige Frau war zunächst übel beschimpft worden. Anschließend wurde sie gewürgt und durch einen Faustschlag an der Nase verletzt." Die Frau, die sich übrigens tatkräftig wehrte, musste in der Notaufnahme eines Krankenhauses versorgt werden.

Die Besetzung des FU-Campus war nicht so friedlich, wie es die inzwischen 339 Dozenten plus 726 externen Unterstützer behaupten, schreibt Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen, mit Parolen wie "From the River ..." oder "Yallah Yallah Intifada" wurde zur Gewalt aufgerufen. Engel wendet sich direkt an die Unterzeichner: "Würden sie sich auch hinter die Studenten-Proteste stellen, wenn es nicht linksextreme, sondern rechtsextreme Studierende wären, die die Auslöschung Israels fordern und zu Gewalt gegen Juden aufrufen? Gewiss nicht. Zu Recht. Warum tun sie es dann hier? Muss man es Akademikern wirklich erklären? Es darf keinen Kulturrabatt bei Judenhass geben."

Das erste Camp auf dem Campus einer Uni in Deutschland gab es in Köln, berichtet Tom Konjer in der FAZ: "Mittlerweile stehen die Zelte schon fast eine Woche lang. Darauf, dass es das erste propalästinensische Studenten-Camp in Deutschland ist, sind die Demonstrierenden hier stolz. Damit habe man etwas angestoßen und Studenten im ganzen Land inspiriert, mitzuziehen. Doch ist fraglich, ob das Camp von Studenten organisiert wird, nicht viele im Camp bezeichnen sich als solche."

====================

Die taz kommt auf einen gewalttätigen Angriff gegen einen Dresdner SPD-Politiker zurück, der beim Aufstellen von Wahlplakaten zusammengeschlagen wurde. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einer "neuen Dimension antidemokratischer Gewalt", aber das ist eine Beschönigung, findet der Extremismusexperte David Begrich im Gespräch mit Konrad Litschko von der taz. Besonders in den Neuen Ländern habe man viel zu lange weggesehen: "Natürlich erleben wir nicht jeden Tag solch schwere Gewalttaten. Aber ich will daran erinnern, dass wir schon seit Jahren etwa körperliche Angriffe auf Journalisten und Journalistinnen erleben, die in Sachsen über die rechten Montagsdemonstrationen berichten. Oder denken Sie zurück an die Wahlkämpfe Ende der Neunziger Jahre in Ostdeutschland, da gab es ähnliche Situationen, als Neonazis aus dem NPD-Umfeld gewalttätig wurden. Der Angriff auf Matthias Ecke ist daher Teil einer langen Kontinuität, nicht eine Ausnahme."

In der FAS wird die Brandenburger FDP-Politikerin Linda Teuteberg zu den tätlichen Angriffen gegen Politiker interviewt. Die meisten Opfer gewaltsamer körperlicher Angriffe seien allerdings AfD-Politiker gewesen, sagt Interviewer Jochen Buchsteiner und fragt, ob hier mit zweierlei Maß gemessen werde: "Das darf jedenfalls nicht geschehen. Es gibt keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus und niemals eine Rechtfertigung für Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Regeln des demokratischen Rechtsstaates müssen ohne Ansehen der Person und des politischen Lagers angewendet werden." In dem Gespräch äußert sich Teuteberg auch noch mal zum "Demokratiefördergesetz" (unsere Resümees). Es sei "ein Widerspruch in sich, Nichtregierungsorganisationen strukturell und dauerhaft von der Regierung finanzieren zu lassen".

Überaus trist liest sich Sascha Zastirals Bilanz nach dem Brexit einige Jahre danach. Aus den hochfliegenden Versprechungen ist nicht viel geworden, neue Freihandelsverträge gibt es kaum, die Wirtschaft ist geschrumpft, das Land deprimiert, erzählt er in der taz. "Von den wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind heute tragischerweise viele der wirtschaftlich abgehängten Regionen besonders stark betroffen, in denen es beim EU-Referendum 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gab. Dass die Menschen dort für den Brexit gestimmt haben, hatte oft weniger mit einer Sehnsucht nach einem Status als Weltmacht zu tun als mit dem Willen, gehört zu werden."

Eine der schärfsten Waffen Alexej Nawalnys waren die großen Dokumentationen über russische Korruption, die er bei Youtube einstellte (es lebe dieses böse Internet). Seine ehemalige Mitarbeiterin Marija Pewtschich hat nun bei Youtube eine Reihe von drei einstündigen Filmen eingestellt, die auf die neunziger Jahre zurückkommt, die Putin möglich machten, berichten Friedrich Schmidt und Reinhard Veser in der FAS. Sie schidert, "wie Jelzin, der Ende der Achtzigerjahre als Volkstribun und Kämpfer gegen die Privilegien kommunistischer Funktionäre populär geworden war, sich schon zu Beginn seiner Regierungszeit auf Staatskosten selbst eine Wohnung angeeignet und andere Luxuswohnungen freihändig an Familie, politische Mitstreiter und Freunde verteilt hat. Wie der Geschäftsmann und Strippenzieher Boris Beresowskij mit fiktiven Verträgen den damals größten staatlichen Fernsehsender unter seine Kontrolle brachte. Und vor allem, wie eine Gruppe von Oligarchen Mitte der Neunzigerjahre vom russischen Staat im Gegenzug für ein gigantisches Geschäft 1996 die Wiederwahl Jelzins sicherstellte." Die Videos sind hier mit englischen Untertiteln zu sehen.

Die Öffentlichkeit hat kaum noch Kapazität, die anhaltenden schicksalhaften Demonstrationen in Georgien wahrzunehmen. Sie richten sich gegen ein Gesetz, das Gegner der Regierung zu "ausländischen Agenten" erklären soll, ganz so, wie die Repression in Russland zugeschnappt hat. Dieses Gesetz diene "ganz bewusst der Provokation des Westens", schreibt Tobias Münchmeyer in der FAS. Die Regierung wolle den europäischen Traum der georgischen Bevölkerung schleifen: "Die europäischen Politiker - von der Leyen, Macron, Michel und Scholz -, sie äußern sich kritisch und drohen für den Fall des Gesetzesbeschlusses mit Aufhebung der Visumfreiheit oder sogar dem Entzug des EU-Kandidatenstatus. Das ist richtig - und doch auch ein Dilemma, denn: Diese Drohungen laufen ins Leere, da die Regierung ja nicht wirklich Mitglied in der Europäischen Union werden will. Immer wieder tappen europäische Diplomaten in diese Falle, anstatt mit gezielten Sanktionen Druck auszuüben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2024 - Europa

Gegen Omri Boehm wurde im Vorfeld der Wiener Festwochen unter anderem von jüdischer Seite protestiert, da Boehms Eröffnungsrede, wie bei den Wiener Festwochen üblich, auf dem Wiener Judenplatz stattfinden sollte. Weil Boehm in seinem Buch "Israel - eine Utopie" eine Zweistaatenlösung ablehnt, wurde ihm etwa von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) Antisemitismus vorgeworfen. Die "Rede an Europa" konnte Boehm schließlich, unterbrochen von Zwischenrufen, halten, atmet Mladen Gladic in der Welt auf: "Die EU sei, hier zitierte Boehm den ersten Eröffnungsredner der Festwochen 2019, den Osteuropahistoriker Timothy Snyder, eine gute Antwort auf den Zerfall der Imperien, die Exzesse von Nationalstaaten, den Holocaust und auch den Kolonialismus gewesen - schlechte Antworten wären, meinte Boehm mit Snyder, mehr Nationalstaatlichkeit oder Imperien. Aber was sich nach innen als Lösung darstellte, habe bezüglich der Opfer der europäischen Geschichte zu etwas geführt, was man wohl als Fetischisierung nationalstaatlicher Souveränität bezeichnen kann. Als Boehm hier auch Israel anführt und Applaus aufkommt, wechselt er ins Deutsche: 'Passt auf!', warnt er und erläutert, jetzt wieder auf Englisch, für einen souveränen jüdischen Staat habe es in der konkreten historischen Situation sehr gute Gründe gegeben. Grundsätzlich gebe es aber den Trend in Europa, außerhalb seiner Grenzen nicht die Würde des Menschen, sondern die Souveränität von Staaten für unantastbar zu halten."

Hier kann man sich die Rede anhören:



Die Inflation in der Türkei ist so hoch, dass sie selbst für Ausländer mit starken Währungen spürbar ist - die Türkei gehört heute nicht mehr zu den günstigen Urlaubszielen, berichtet Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. In der Türkei tröstet man sich inzwischen mit einem neuen Lehrplan für die Schulen: "Die Inhalte der naturwissenschaftlichen Fächer sollen in Übereinstimmung mit dem Religionsunterricht gebracht werden; im Lehrplan fehlen sowohl Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, wie auch das Laizismus-Konzept. Integralrechnung wurde gestrichen, aber der Begriff Dschihad aufgenommen."

In der NZZ berichtet die russische Schriftstellerin Irina Rastorgujewa nicht nur von der Siegesparade zum 9. Mai in Russland, sondern erzählt auch entsetzt, wie Kleinkinder zunehmend indoktriniert werden: "In Kindergärten und Schulen tragen die Kleinsten Gedichte darüber vor, wie sie aufwachsen und den 'faschistischen Abschaum' besiegen werden, zeigen Schlachtszenen, Miniaturen, stellen die Gräber von Soldaten dar - die Eltern sind gerührt, begeistert, ihre Kinder wachsen zu Patrioten heran, und bald können sie der Armee übergeben und erfolgreich zum aktuellen Wechselkurs gegen ein neues Auto oder Brennholz eingetauscht werden. Je nachdem, wie hoch der Lohn für einen Freiwilligen ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Europa

Fassungslos berichtet Inna Hartwich in der taz von Putins Einführung in seine fünfte Amtszeit: "In seiner achtminütigen Rede spricht er von 'traditionellen Werten', 'Volkserhaltung' und der 'Einzigartigkeit Russlands'. 'Auf den ersten Platz müssen wir immer unsere Heimat stellen', sagt er. Der Kreml vereinnahmt mittlerweile jeden Einzelnen für den Erhalt seines Status quo. Putin stellt an die Menschen neue Ansprüche, fordert nicht mehr nur die schweigende Zustimmung, sondern macht sie zu Komplizen seines Regimes: Sie sollen für die von den Machthabern ausgemachten Helden jubeln, sollen an den russischen Sieg glauben. 'Alle zusammen werden wir siegen', ist seine Losung. Zur 'neuen Elite' im Land sollen die werden, die sich an der Front und in den Militärfabriken fürs Vaterland aufopfern, das ist Putins Ziel. Dafür lässt er sich vom höchsten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche segnen. 'Hoheit' nennt ihn Patriarch Kirill in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml. Wie die früheren Zaren."
Stichwörter: Putin, Wladimir, Russland

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Europa

Die AfD hegt große Sympathien für die Autokratien in China und Russland, "zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Die AfD ist in ihrer Käuflichkeit den etablierten Parteien verwandt, sie agiert nur dreister, dümmer und draufgängerischer. In ihrer romantischen Verklärung von Russland und China stehen ihr Sahra Wagenknecht, SPD und CDU in nichts nach", meint in der taz der Satiriker Florian Schroeder. "Sahra Wagenknecht hat gerade erst bei The Pioneer zu Protokoll gegeben, Putin sei zwar ein autoritärer Herrscher, habe aber die Russen aus einer Demütigung herausgeführt. Unglücklich, dass dafür zehntausend ukrainische Zivilisten und Hunderttausende Soldaten mit dem Leben bezahlen mussten." Aber auch Manuela Schwesig von der SPD, Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) und Maximilian Krah (AfD) bekommen von Schroeder ihr Fett weg, der am Ende warnt: "Diese romantische Vergaffung Russlands und Chinas, der viele Linke, Linksliberale und vereinzelte Konservative den Boden bereitet haben, hat nur ein Ziel: den amerikanischen Liberalismus als Quelle allen Übels anzugreifen, weil Freiheit offenbar noch gefährlicher erscheint als brutale Autokratien."

In der Zerstörung von Charkiw und der geplanten Einrichtung "sanitärer Zonen" offenbart sich dem vor Ort lebenden Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ die ganze Schizophrenie, ja: "Faschizophrenie" Putins: "Sanitäre Zonen werden in der Regel um Einrichtungen herum eingerichtet, wo es eine Verschmutzung oder eine Kontamination gegeben hat. Allein der Gedanke an eine sanitäre Zone in der Ukraine spricht Bände darüber, was die Kremlführung, die sich so rührend um das Wohlergehen der Russen und der russischsprachigen Bürger bei uns kümmert, wirklich über diese denkt: Einerseits lieben wir euch so sehr, dass wir das Leben Hunderttausender Russen aufs Spiel setzen würden, nur damit eure Rechte nicht verletzt werden, andererseits behandeln wir euch wie eine stinkende Müllhalde, einen Rinderfriedhof oder einen Milzbrandherd und sind bereit, euer Gebiet in eine Wüste zu verwandeln - mit euch oder ohne euch, das ist uns egal."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Europa

Wenn jemand gegen Putin protestiert, dann ist er wohl verrückt! Der unter Pseudonym schreibende russische Journalist Boris Klad schildert in der FAZ, wie unter Putin das Instrumentarium, das schon in den Siebzigern gegen Dissidenten eingesetzt wurde, wieder aus der Mottenkiste geholt wird. Für Putin hat es viele Vorteile, Regimegegner in psychiatrische Anstalten zu schicken: "Wenn Dissidenten für verrückt erklärt werden, gibt es weniger 'politische' Prozesse, die Fassade der Legalität ist leichter aufrechtzuerhalten. Außerdem kann man Dissidenten so leichter kontrollieren. Denn im Unterschied zum Gefängnis mit seinen klaren Regeln kann man in einer Spezialklinik beliebig lange festgehalten werden. So kann man Oppositionelle loswerden, die das Gefängnis womöglich nicht bricht. Mittels Psychopharmaka lassen sie sich in 'Gemüse' verwandeln."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2024 - Europa

Die Republik Moldau ist nicht nur durch das Randgebiet Transnistrien gefährdet, sondern auch durch das Gebiet Gagausien, berichten Friedrich Schmidt und Michael Martens in der FAZ. Das teils an die Ukraine grenzende Gebiet, flächenmäßig doppelt so groß wie die Stadt Berlin, aber nur von 135.000 Menschen bevölkert, hat einen autonomen Status - und Politiker, die sich Putin mit viel Geld gefügig macht. "Die Gagausen sind zwar ein turksprachiges Volk, doch religiös dem orthodoxen Christentum zugehörig. In der Identität steht für eine große Mehrheit der Gagausen das religiöse Bekenntnis weit über der sprachfamiliären Herkunft. Das musste auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erfahren, als er im Jahr 2018 Comrat besuchte. Die Türkei bemüht sich eifrig um die Köpfe und Seelen der Gagausen, finanziert den Bau von Schulen, Kindergärten und sogar einer Universität, unterhält auch ein Generalkonsulat in Comrat. Doch in der Beliebtheit steht sie bei der gagausischen Bevölkerung eindeutig im Schatten Russlands."
Stichwörter: Gagausien, Moldau, Republik Moldau

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 - Europa

Emmanuel Macron wiederholt in einem Economist-Interview, dass er europäische Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließt, falls Russland große Geländegewinne macht. Der Economist resümiert selbst: "Macron weigert sich, von seiner Erklärung vom Februar abzurücken. ... Sie rief bei einigen seiner Verbündeten Entsetzen und Wut hervor, aber er besteht darauf, dass ihre Zurückhaltung Russland nur ermutigen wird, weiterzumachen: 'Wir waren zweifellos zu zögerlich, als wir jemandem, der keine Grenzen mehr hat und der der Aggressor ist, die Grenzen unseres Handelns aufgezeigt haben.'" Das Macron-Interview ist hier in Le Monde auf englisch zusammengefasst.

"Ein halbes Jahrhundert nach der 'Nelkenrevolution' drohen die demokratischen Errungenschaften, die sie damals so eindrucksvoll erkämpfte, in ganz Europa verspielt zu werden", fürchtet Richard Herzinger, der in seiner Perlentaucher-Kolumne an das "Pathos der Freiheit" erinnert, das Portugal und dann Griechenland und Spanien aus dem Zugriff der Diktatoren befreite: "In der trügerischen Gewissheit, die liberale Ordnung sei nunmehr alternativlos, ist in den europäischen Gesellschaften die kollektive Erinnerung daran verblasst, welches grauenvolle Unheil Diktaturen bis ins späte 20. Jahrhundert hinein über den Kontinent gebracht haben - und welch ungeheurer Anstrengungen es bedurfte, sie endlich vollständig zu beseitigen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2024 - Europa

Vor zwanzig Jahren fand die Osterweiterung der Europäischen Union statt, unter anderem mit dem Beitritt von Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Doch der ganze Prozess geschah nicht ganz reibungslos und ging mit einer Gängelung von Seiten der "alten" EU-Staaten einher, meint Andreas Ernst rückblickend in der NZZ. "Das führte zu Ressentiments und antiliberalen Gegenschlägen. Nicht weil die Osteuropäer ihrer autoritären Vergangenheit nachtrauerten und mental 'noch nicht so weit' waren, wie westliche Kommentatoren schrieben. Sondern weil die von den Mentoren behauptete Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Wegs viele Menschen enervierte. Solche Gefühle der Unterlegenheit hat der russische Angriff auf die Ukraine weggeblasen. Er hat die Stimmen der osteuropäischen Länder mit einem Schlag unüberhörbar gemacht. Denn es zeigte sich, dass etwa die Polen, Esten, Letten und Litauer viel früher verstanden, was jetzt auch Deutsche und Franzosen einsehen: dass Europa mehr sein muss als ein Markt, nämlich wehrhaft. Der Krieg hat den Schwerpunkt Europas weit nach Osten verschoben. Niemand würde mehr behaupten, dass dort Europäer zweiter Klasse leben."

Im Interview mit der FR glaubt der polnische Kulturphilosoph Andrzej Leder nicht an einen Polexit, also einen möglichen Austritt Polens aus der EU: "Denn zum einen wissen viele, dass bei einem EU-Austritt wir selbst die Gefahren Russlands abwehren müssten, die USA würden uns eher nicht retten. Die EU ist eine Form der Sicherung vor einem möglichen Krieg. Zum Zweiten aber wird es in Polen in den nächsten Jahren den erwähnten Generationenwechsel in der Politik geben. Für die neue Generation ist die EU eine Selbstverständlichkeit. Es dürfte also weniger eine Diskussion über einen Polexit geben als vielmehr darüber, in welcher EU wir sein wollen."

Der Vorwurf der "Russophobie", der von Putin-treuen Propagandisten gegen den Westen erhoben wird, dient lediglich Putins Machterhalt, meint der Politikwissenschaftler J. I. Szirtes in der NZZ. "Der ständige Vorwurf an das Ausland, 'russophob' zu sein, dient nicht nur dessen moralischer Abstempelung, es setzt es auch unter Rechtfertigungs- und Erklärungszwang. Dabei macht sich der Kreml die Xenophobie der einfachen Leute zunutze. Nach Meinungsumfragen unterstützen über vier Fünftel der Russen Putin, allerdings ohne über die Konsequenzen von dessen Politik genau im Bild zu sein. Die Mehrzahl der Menschen lebt auf dem Lande und hat Zugang ausschließlich zum regimehörigen Fernsehen. Sie lassen sich unschwer weismachen, dass ihre russische Lebensart bedroht sei, und entsprechend leicht kann Putin den beschützenden Zaren mimen, der sich um die Sorgen und Nöte der kleinen Leute kümmert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2024 - Europa

Der Tod von Alexej Nawalny und die vielen Blumen auf seinem Grab haben gezeigt, dass es in Russland noch eine Opposition gibt, schreiben die Bundestagsabgeordneten Michael Roth, Anton Hofreiter und Renata Alt in einem gemeinsamen Beitrag für die Welt. Dabei weisen sie auf die rund tausend politischen Inhaftierten im Land, darunter Wladimir Kara-Mursa (Unsere Resümees)". Seit zwei Jahren ist Kara-Mursa mittlerweile in immer entlegeneren Straflagern inhaftiert - ohne medizinische Versorgung, mit äußerst sporadischem Kontakt zu seiner Familie." Deshalb fordern die drei Autoren seine sofortige Freilassung "und es braucht eine entschlossenere Unterstützung und mehr Aufmerksamkeit für die russische Opposition." Was die Ampel-Regierung bisher konkret für die russische Opposition gemacht hat, bleibt von ihren drei Repräsentanten allerdings unbeantwortet.
Stichwörter: Nawalny, Alexej

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Europa

Die EU muss sich reformieren, sonst geht sie zugrunde, warnen in der taz Sylvie Goulard und Daniel Cohn-Bendit, beide ehemalige Europaabgeordnete. Abschaffen wollen sie vor allem das Einstimmigkeitsprinzip. Und sie plädieren für ein föderales Europa: "Angesichts der russischen Bedrohungen und der Gefahr eines US-Isolationismus sollten wir uns reinen Wein einschenken: Es gibt keine politische Macht ohne solide Finanzen (wie es in Frankreich gern geglaubt wird) noch wirtschaftliche Macht, ohne Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen (wie es die Deutschen lange Zeit gehofft haben). Und ganz zu schweigen von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Demokratisierung der Entscheidungsprozesse: kein demokratisches Europa ohne die Zustimmung der Bürger, kein Europa ohne ein Wir-Gefühl, das die Abgabe und das Teilen von Souveränität rechtfertigt." Denn genau dies begünstige den Vormarsch von Links- und Rechtsextremen, "getragen von nationalistischen und protektionistischen Versprechen. Ihre genialen Ideen würden uns zum Völkerbund zurückführen, mit dem uns allen bekannten Erfolg. Auch die traditionellen Parteien sind weit davon entfernt, etwas für die europäische Einigung zu riskieren und ziehen sie sich lieber in ihr bequemes Schneckenhaus zurück."

Immer wieder hört man, die Medien sollten der AfD keine Bühne bieten und sie ignorieren. In der SZ findet der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Müller das eher fatal, er plädiert für die inhaltliche Auseinandersetzung und hat Vertrauen in die Bürger: "Die große Mehrzahl unterscheidet nicht zwischen 'Pass-' und 'Biodeutschen', hat mit einem ethnischen Volksbegriff nichts am Hut und sieht nicht in jedem Migranten einen potenziellen Vergewaltiger. Sie leugnet nicht den menschengemachten Klimawandel und ist gegen die unterwürfige Anbiederung an Putin. Sie will weder einen EU-Austritt noch die Abschaffung von Euro oder Nato. Sie erachtet den Nationalsozialismus nicht als 'Vogelschiss' der deutschen Geschichte und hat kein Problem, Tür an Tür mit Fußballnationalspielern jeder Herkunft zu wohnen. Wer erlebt hat, wie der frühere Geschichtslehrer Höcke im TV-Duell mit Mario Voigt versuchte, Ahnungslosigkeit bei der Verwendung von Nazi-Parolen vorzutäuschen und herumeierte, als er mit seinen Aussagen zu einer Politikerin mit Migrationshintergrund konfrontiert wurde, sollte das paternalistische Vogel-Strauß-Argument vergessen, man dürfe der AfD keine Bühne bieten. Kritik verdienen nicht Debatten mit der AfD, sondern die Unfähigkeit, dabei fundiert zu argumentieren."